Vergebung - Dein Weg in die Freiheit, zu Dir selbst und wie Du ihn gehen kannst

Ich möchte Dir erklären, warum es so schwer ist zu vergeben und wie es Dir dennoch gelingen kann.

Vergebung ist ein großes Wort und ein gewichtiger Prozess. Als in Südafrika am Ende der Apartheit darüber nachgedacht wurde, wie ein Wechsel ohne Blutvergießen möglich sein kann, kam man auf die Idee der Wahrheitskommission. Wer bereit war, sich dieser Kommission als Täter oder Täterin zu stellen, ging straffrei daraus hervor. Zur Bereitschaft sich dieser Kommission zu stellen gehörte die Bereitschaft, den Opfern des eigenen Handelns zu begegnen und zu erzählen, wie Gewalt, Intrigen und Erniedrigungen geplant und durchgeführt worden waren.

Gerade für viele Angehörige war es wichtig zu hören, was wirklich geschehen ist, denn teilweise waren die Opfer längst durch Folter und Mord gestorben. 

Die Wahrheitskommission hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Wahrheit ans Tageslicht zu holen und so Versöhnung zu ermöglichen. So konnte das Apartheitsregime beendet werden, ohne dass ein Rachefeldzug gegen die weiße Oberschicht losgetreten wurde.

Zum Glück leben wir nicht in einem Regime, das andere foltert und in einem System, das grundsätzlich keine Gerechtigkeit walten lässt (es gibt natürlich kein System, das 100% gerecht ist). Dennoch erleben wir natürlich in unserem Leben selber immer wieder Ungerechtigkeiten, Erniedrigungen, Verletzungen, Vertrauensbrüche, die uns zu einem Opfer von anderen machen.

In diesem Artikel möchte ich Dir zeigen, wie tiefgreifend Opfer-Täter-Beziehungen sind, was es bedeutet, ein Opfer zu sein, warum es so schwer ist, die Opferrolle zu verlassen und wie es Dir dennoch gelingen kann.

Ich möchte natürlich auch etwas zu dem Täter sagen (ich benutze ab jetzt die männliche Rolle in dem Wissen, dass es natürlich auch weibliche Täterinnen gibt).

1.  „Du Opfer!“

Es war eine Zeit lang ein Schimpfwort unter Jugendlichen (und mag es vielleicht sogar heute noch sein), dass man jemanden als “Opfer” bezeichnet. “Du Opfer!”, das klingt wie “Du Schwächling!”. Das hört sich nach jemanden an, der sich nicht selber helfen kann, der zu schwach, zu hilflos ist und zu wenig Mumm in den Knochen hat. Schade, dass Opfer durch solche Sprüche zusätzlich verhöhnt und erniedrigt werden.

Zunächst muss man unterscheiden: Es gibt die so genannten sozialen Opfer, das sind Rollen, die wir übernehmen oder uns auferlegt werden, und uns in diese Opferrolle bringen, ohne dass wir uns vielleicht so fühlen. Ein ganzes Land kann eine Opferrolle übernehmen, ohne dass sich jemand deshalb auch als Opfer fühlen muss.

Daneben gibt es natürlich auch die psychische Opferrolle, die jemand einnimmt. Diese Rolle kann man einnehmen, auch wenn man “objektiv” gar kein Opfer ist. Es gibt eben Menschen, die sich immer und überall als Opfer sehen, ohne zu erkennen, wie sie bestimmte Situationen immer wieder aktiv hervorrufen.

Mir geht es in diesem Artikel schlicht und einfach um alle, die sich als Opfer fühlen, die jemandem aus gutem Grund etwas vorwerfen oder ihn beschuldigen.

2.  Opfer-Täter, eine stabile Beziehung

Zunächst möchte ich an dieser Stelle etwas klarstellen. Mir geht es nicht darum, Menschen in einer Opfersituation zu verunglimpfen oder unter Druck zu setzen. Oft braucht es lange Zeit, in der man in der Opferrolle bleibt und diese Zeit ist wichtig. Nur das Opfer weiß, wann es soweit ist, die Opferrolle zu beenden. Und Anschuldigung und Anklage (auch gerichtlicherseits) können sehr wichtige Phasen sein.

Dennoch ist ein Leben in der Opferrolle wirklich niemandem zu wünschen. Ich glaube, dass die stabilsten Beziehungen Täter-Opfer-Beziehungen sind. Und in gewisser Weise lassen sich solche Beziehungen auch nicht wirklich auflösen. Denn durch Ereignisse, die dazu führten, dass jemand Täter und ein anderer Opfer wurden, sind beide für den Rest ihres Lebens aneinander gebunden. Wie stark und einschränkend diese Bindung ist, dass ist die entscheidende Frage. Und ich möchte es so formulieren: Vergebung ist der Weg, diese Beziehung so weit wie möglich zu lockern. Vorwurf und Anklage zurren die Beziehung eng zusammen. Vergebung weitet sie und man kann auf Abstand gehen.

3.   Empörung lässt die Opfer im Stich

Wenn etwas Schlimmes vorgefallen ist, dann kommt es schnell zu Empörungen, Menschen sind aufgebracht. Und natürlich ist das verständlich. Gerade sprechen wir in Deutschland und der Welt über den Sieg der Taliban in Afghanistan und wie die Menschen und Unterstützende dort von den westlichen Alliierten im Stich gelassen wurden. Viele sind empört und klagen jetzt an. Doch was passiert bei Empörung und Anklage? Man richtet den Blick weg von den Opfern hin zu den (vermeintlichen) Tätern. Und warum macht man das? Weil man die eigene Hilflosigkeit im Angesicht der Opfer nicht aushält. Man hält es nicht aus, sich die Opfer anzuschauen. Lieber lenkt man den Blick auf die Täter und kommt weg von der Ohnmacht hin zu Wut und Entrüstung. Und Ohnmacht ist vielleicht eines der unangenehmsten Gefühle, es ist das Gefühl der Opfer.

Empörung ist verständlich und nachvollziehbar, aber sie hilft insbesondere in der akuten Situation nicht den Opfern.

4.  Warum vergeben?

Ich habe schon einige Hinweise gegeben, warum Vergebung ein wichtiger Weg sein kann. Aber ist es nicht richtig, wütend zu sein, anzuklagen und haben Opfer nicht das Recht, auf Rache, Vergeltung und Vorwurf? Ja, haben sie und ich verstehe das. Auch wenn Rache nicht heißen darf, den anderen zu vernichten und legale Mittel immer einzuhalten sind. Ich will keinem Opfer diese Gefühle und keinen Gramm Wut nehmen.

Vielleicht bist Du selber einmal ein Opfer gewesen, oder gerade jetzt in dieser Zeit und spürst noch, wie es sich anfühlt. Aber vielleicht spürst Du auch, dass dieser Weg auf Dauer kein guter sein kann, dass Du irgendwann einen Weg gehen musst, der ein anderer ist.

Weißt Du was passiert, wenn Du den Weg der Anschuldigung und Anklage weitergehst? Du wirst Dich selber aus dem Blick verlieren. Du wirst Deinen eigenen Weg verlassen und bindest Dich noch stärker an den Täter.

Vergebung heißt, seinen eigenen Weg weiter zu gehen. Deshalb ist Vergebung so wichtig, weil es um Dich geht, weil Du Deinen Weg gehen sollst.

5. Was ist so schwer daran, einem anderen zu vergeben?

Einfach ist es wirklich nicht, zu vergeben. Es ist ungemein schwer, auch wenn es auf dem Papier so einfach klingen mag. Vergeben und schon ist alles wieder gut? Nein, so einfach ist es wirklich nicht.
Was aber macht es so schwer?
Ich glaube, dass es eine Angst ist vor der Leere. Denn nach einer langen Zeit der Anklage und Anschuldigung entsteht nach der Vergebung eine eigenartigen Stille und Leere in einem. Der innere Aufruhr ist vorbei, die viele innere Energie, die ich gegen jemanden richtete, klingt ab. Und jetzt? Jetzt passiert zunächst nicht viel und das wird als Leere erlebt. Natürlich bleibt es nicht dabei, es kommt etwas Neues, wenn auch nicht sofort. Es entsteht nämlich ein neuer Weg, eine innere Ruhe und ein Frieden.
Du musst keine Angst vor dieser Ruhe haben. Bleibe in ihr, vertraue ihr und beobachte genau, was in Dir geschieht und wie sich Neues zeigen will.
Aber es gibt noch einen Aspekt, der es uns schwer macht zu verzeihen. Es ist diese subtile Haltung: Jede Anklage macht mich als Ankläger zu einem moralisch besseren Menschen. Wenn ich sage: Du hast es getan, Du bist schuldig, dann bin ich unschuldig und ich habe es nicht getan. Jede Anklage sagt etwas über den Anklagenden aus - das ist klassische Kommunikationspsychologie. Und diese moralische Überlegenheit ist wahrlich nicht leicht aufzugeben. Mit jeder Anklage mache ich ja, deutlich, wo ich stehe und dort stehe ich gerne.
Werde Dir also darüber im Klaren, welchen Preis Du für die Vergebung und für Deine Freiheit zahlen musst, der Preis besser zu sein und moralisch überlegen.
Ich weiß es selbst, das ist ein hoher Preis und daher wird Vergebung manchmal auch als Niederlage erlebt.

6. Wie kann ich vergeben?

Natürlich ist es, wie alle großen Gesten, im Grunde ganz einfach, aber eben nicht leicht. Vergeben heißt die eigene moralische Überlegenheit aufzugeben. Und das wiederum heißt in dem anderen, dem Täter, den Menschen zu sehen, vielleicht sogar die Opferanteile im Täter. Es ist ja kein Geheimnis und keine Überraschung mehr, dass viele Täter einst selber zu Opfern gemacht wurden. Vielleicht hilft dieses Wissen, den Täter anders zu sehen. Mit der Differenzierung beginnt schon die Vergebung. Wer den Täter differenziert betrachtet, der kann nicht mehr in purer Anklage verharren, sondern beginnt zu verstehen.
Das wäre also schon mal ein erster Schritt.
Der nächste Aspekt ist die Wendung Deines Blickes. Denn in der Phase der Anklage, wen schaust Du dann an? Natürlich den Täter. Daher meine Empfehlung, wieder den Blick auf Dich zu richten. Deine Bedürfnisse und Wünsche wieder in den Mittelpunkt zu stellen. Anklage und Wut können Dich von Deinem Weg abbringen. Das solltest Du auf Dauer nicht zulassen, sonst wirst Du erneut ein Opfer der Umstände. Beginne Dich wieder zu sehen, aber nicht nur als Opfer, dem etwas angetan wurde, sondern in Deiner Ganzheit, mit allem. Es ist also auch hier wichtig zu differenzieren, aber zunächst gilt es, Dich in den Blick zu nehmen. Mache Dich nicht zu Deinem eigenen Opfer!
Vergebung ist selten ein einziger Augenblick, in dem es Klick macht und alles ist wieder gut oder vorbei. Vergebung darf ein Prozess sein, es darf “Ehrenrunden” geben. Du darfst Besuche bei Deiner Wut und Anklage machen, um Dich dann wieder Deinem Leben zu widmen. Es muss nicht gleich alles vorbei sein.
Manchmal helfen Vergebungs-Rituale. Das geht auch, wenn der Täter nicht anwesend ist.

Vergebungsritual

Schritt 1

Suche Dir einen Ort in der Natur, wo Du Deiner Opfererfahrung ein Denkmal setzen und dort belassen willst. Vielleicht ein schöner Baum irgendwo in der Nähe (aber nicht so, dass Du jedes Mal den Ort siehst, wenn Du aus dem Fenster schaust).

Schritt 2

Dann suche Dir einen Stein, der Deine Opfererfahrung am besten symbolisieren kann.



Schritt 3

Gehe nun mit dem Stein zu dem Ort, wo er seinen Platz finden soll. Platziere ihn dort und mit dem Stein auch Deine Opfererfahrung. Gib alle Emotion mit in den Stein.

Schritt 4

Danach verlasse diesen Ort und den Stein langsam und bewusst. Spüre wie die Distanz zum Stein und damit zu Deiner Erfahrung immer größer wird, spüre den Raum, der dadurch entsteht.

Und sollte die Anklage mal wieder Oberhand gewinnen, dann gehe wieder zu dem Ort und dem Stein, gib wieder alles in den dort ruhenden Stein und verlasse diesen Ort wieder in der gleichen Art und Weise.

7. Und die Täter?

In gewisser Weise wird der Täter zum Opfer der eigenen Tat. Als Täter kann man nur bitten, mehr nicht. Der Weg des Täters ist es, der eigenen Schuld und Tat in die Augen zu schauen. Auch das kann Zeit brauchen. Wenn man durch einen Unfall jemanden getötet hat, dann braucht es lange, bis man sich der Tat stellen kann. Aber das ist der einzige Ausweg des Täters, sich zu sagen: Ich habe es getan. Es ist der Weg, die eigene Schuld anzuerkennen und nicht den Blick abzuwenden, nicht unnötig zu begründen und schon mal gar nicht zu rechtfertigen. Darauf warten viele Opfer, dass der Täter anerkennt, was es den Opfern abverlangt hat und auch die Schmerzen und das Leid anzuerkennen.

Ich sehe keinen anderen Weg für die Täter. Erst aus der Anerkennung und dem Hinschauen entsteht eine neue Würde des Täters.

Es ist ein komplexes Thema, über Vergebung zu schreiben und ich bin mir bewusst darüber, dass die Praxis oft viel differenzierter ist, als es ein solcher Artikel darstellen und darauf Antworten geben kann. Wichtig ist mir zu sagen, dass es kein Muss im klassischen Sinne gibt, kein Muss aus moralischer Sicht. Das Opfer muss zunächst gar nichts, aber wenn es bestimmte Ziele hat, beispielsweise das eigene Leben zu leben und frei zu werden von den Ereignissen und dem Täter, dann gibt es tatsächlich ein Muss im Sinne einer Kausalität. Denn Vergebung ermöglicht diese Freiheit und die Rückbesinnung auf den eigenen Weg. Nur in diesem Sinne ist es richtig und recht zu sagen, dass das Opfer vergeben muss.

Wenn Du Fragen hast oder etwas anmerken oder ergänzen möchtest, tue das gerne. Ich werde gerne darauf antworten. Vielleicht ist hier ein guter Ort über solche Fragen und Themen zu sprechen.

David

Spiritualität gehört zu mir und meinem Leben. Ich kann es mir gar nicht anders vorstellen. Schon als Jugendlicher habe ich mich mit solchen Themen beschäftigt. Heute geht es mir vor allem darum, dass jede und jeder eine eigene Form von Spiritualität entwickelt, die als sehr stimmig erfahren wird. Zugleich bin ich offen für viele mystische Wege in allen Religionen.

Weite ist für mich ein ganz wichtiges Wort, wenn ich über Gott und mein spirituelles Leben nachdenke.

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