Es ist vielleicht eine der häufigsten Selbstdiagnosen, dass wir uns entfremdet fühlen. Sich selbst fremd geworden zu sein, dem Leben und vielleicht auch dieser Welt, ist eine schwierige und nicht leicht anzugehende Diagnose. Denn man merkt es oft nicht sofort und viele wissen nicht, dass sie betroffen sind. Es wirkt dann wie ein allgemeines Unbehagen im Leben. Ich möchte, dass Du an Dir selbst erkennst, wann es so weit ist und dass Du dann weißt, was Du möglicherweise tun oder wo Du ansetzen kannst. Dafür mache ich dieses Video, weil ich es wichtig finde, das zu wissen.
Wie fühlt man sich, wenn man sich entfremdet hat?
Ich bin froh, für mich selber nicht behaupten zu können, mich fremd in meinem Leben zu fühlen oder in dieser Welt. Aber ich kannte eine solche Situation und da war es bei mir so:
Ich lebte so vor mich hin, ich tat, was ich immer tat, sagte, was ich immer sagte. Von außen merkte man vermutlich nichts. Aber ich hatte eine seltsame Distanz zu dem, was ich tat und sagte. Das war schon ich, aber es war nicht richtig ich. Und ich spürte auch: Ich muss etwas anderes tun und etwas anderes sagen, aber ich wusste nicht was. Das war für mich eigentlich das Schlimmste an der ganzen Sache. Es war ein großes Dilemma: Ich spürte das Unbehagen an meinem Leben, wusste aber nicht, wie ich es ändern konnte. Und so machte ich weiter und weiter, bis von außen ein Anstoß kam, etwas zu verändern, ein Anstoß, dem ich nicht mehr ausweichen konnte.
Vielleicht kennst Du dieses Gefühl, das ich selber hatte. Man spürt, es ist nicht richtig, was Du machst, es ist nicht richtig, was Du sagst. Dabei sind die Worte und Taten nicht grundlegend falsch, wohl aber falsch für mich selber, ich habe also nichts Schlimmes getan oder so.
Und oft ist es ein Anstoß von außen: eine Kündigung, eine Trennung oder auch eine Krankheit, die den Impuls geben, etwas zu verändern.
Arten der Entfremdung
Die Selbstdiagnose Entfremdung muss man meines Erachtens sehr differenziert betrachten. Es gibt nicht die eine Entfremdung, sondern verschiedene Arten von Entfremdung. Und die möchte ich Dir hier vorstellen.
Entfremdung von sich selbst
Die erste und sicherlich grundlegendste Art ist die Entfremdung von sich selbst. Es muss doch das Ziel sein, im eigenen Leben zu Hause zu sein und im eigenen Körper ebenso. Wenn aber hier schon ein Riss durch Dein Dasein geht, dann bist Du nachhaltig geschwächt und das Leiden bleibt nicht aus. Ich vermute, dass es Menschen so ergeht, die das Empfinden haben, im falschen Körper mit dem falschen Geschlecht geboren worden zu sein.
Die Ursache für die Entfremdung vom eigenen Leben kann darin liegen, dass Du Dich zu sehr anpassen musst, um in diesem Leben und dieser Welt noch anschlussfähig zu sein oder weil man es von Dir erwartet und Dir so beigebracht hat. Gerade Erziehung kann vieles dazu beitragen, ob ich mich häuslich in meinem Leben niederlassen kann oder nicht.
Aber es geht selbstverständlich noch weiter. Denn ein wesentlicher Aspekt ist der Zugang zur eigenen Gefühlswelt und zum eigenen Körper und ich möchte noch ergänzen, es geht auch um den Zugang zum eigenen Unbewussten. Wenn ich zum Beispiel meine Gefühle nicht spüren durfte. Das kann in bedrohlichen Situationen durchaus hilfreich sein, aber auf Dauer führt es zu einer Entfremdung.
Diesen Kontakt wiederherzustellen ist ein langer Prozess. Wir sind Meisterinnen und Meister darin, unsere Gefühle so zu verstecken, dass wir sie selber nicht mehr wiederfinden. Man spürt einfach nichts und der Körper wird als eine Maschine wahrgenommen und nicht als ein Leib, der man selber ist.
Hier hilft nur eine gute Körperarbeit und die Frage an mich selber: Was spüre ich jetzt? In jeder nur erdenklichen Situation immer wieder diese Frage: Was spürst Du jetzt, in diesem Augenblick.
Eine andere zu diesem Themenkreis gehörende Entfremdung ist die der Entfremdung und Trennung vom Geistigen. Das ist viel schwerer auszumachen und kein Thema einer Psychotherapie und noch weniger einer Medizin. Wenn ich mich vom Geistigen getrennt fühle, dann bekomme ich keine Inspiration mehr, ich kann die Führung nicht mehr spüren und verliere den Kontakt zum Größeren.
Entfremdung von der eigenen Bestimmung
Und das führt dann gleich zum nächsten Thema, der Entfremdung von der eigenen Bestimmung. Die Grundlage dafür liegt in dem, was ich Dir soeben gesagt habe. Denn wenn mir jede Inspiration fehlt, dann kann ich meinen Weg nicht finden. Wenn ich mich nicht mehr spüre, dann kann ich meine Berufung nicht finden, dann übernehme ich Aufgaben und mache eine Arbeit, die getan werden muss, die in sich gewiss auch nicht sinnlos ist. Aber ich spüre, dass es nicht das ist, was ich in dieser Welt tun sollte. Oder ich spüre ebenfalls nicht, wie langweilig es mir auf der Arbeit ist, so dass ich abends immer noch Wein oder Bier trinken muss, damit ich mir einen Ausgleich verschaffe.
Kindliche Prägungen können mich schon früh auf eine falsche Fährte bringen. Es geht um Glaubenssätze in der Familie wie: Bei uns studiert man nicht! In unserer Familie ist man nicht erfolgreich. Schuster bleib bei Deinen Leisten. Und so weiter. Sie halten uns ständig zurück und wir bleiben weit hinter dem zurück, was für uns bestimmt ist.
Und das heißt, dass Du Deine Fähigkeiten und Begabungen nicht lebst und diese Welt darauf verzichten muss. Und weißt Du was? Diese zu entdecken, das ist Deine Aufgabe, egal wie alt Du bist. Das ist nicht nur eine Aufgabe für junge Leute, oder gar nur für Kinder. Auch wenn Du 60, 70 oder 80 Jahre alt bist: Hast Du schon alle Deine Begabungen entdeckt und lebst Du sie? Hast Du Deine Aufgabe schon gefunden?
All die Entwicklungskonzepte, die helfen sollen, die eigenen Fähigkeiten zu entdecken, sind meistens auf Jüngere aus, die noch am Berufsleben teilnehmen. Aber das ist viel zu kurz gegriffen.
Entfremdung vom Lebendigen
Kommen wir aber zu einem weiteren Themenkreis, der mir selbst sehr am Herzen liegt. Es geht um die Entfremdung vom Lebendigen.
Ich habe vor ein paar Wochen angefangen, unseren Balkon zu bepflanzen. Bisher bestand er nur aus der Bodenplatte und dem Geländer, zwei Stühle, einem Sonnenschirm und einem kleinen Tisch. Das war kein lebendiger Balkon. Doch jetzt sind dort Kräuter und Blumen und ich habe erst begonnen, diesen kleinen Ort wirklich zu begrünen. Er soll lebendig werden und schon jetzt spüre ich, wie gut mir das tut. Allein der Griff in die Blumenerde, das tägliche Gespräch mit den Pflanzen und das Gießen bringen mich in Kontakt mit dem Lebendigen.
Sonst sitze ich ja den ganzen Tag im Büro. Und auch, wenn ich dort Blumen habe, so schaue ich doch meistens nur auf den Bildschirm.
Und ich merke, dass wir das brauchen. Die Freude an dem Lebendigen. Und dieses Lebendige ist nicht nur in den Pflanzen und Tieren zu finden. Es ist überall da.
Dafür aber ist es zwingend notwendig, die Natur nicht mehr als Objekt anzusehen. Ein Objekt, das ich nutze, um mich zu ernähren, um es hübsch zu machen. Sondern die Natur als ein Gegenüber zu sehen. Es geht um eine Ich-Du Beziehung zur Natur. Deshalb darf ich dennoch die Möhre essen und den Schnittlauch klein schneiden. Die Pflanzen freuen sich, wenn sie gemocht und genutzt werden. Aber sie brauchen ebenfalls unsere liebende Aufmerksamkeit und unsere Freundlichkeit. Sich den Pflanzen bewusst freundlich zu nähern, kann einen großen Unterschied machen. Versuche es mal.
Unsere ganze Klimakrise ist meines Erachtens auf die Objektivierung der Natur zurückzuführen und die wirklich wichtige Lösung wäre, sie wieder als ein Gegenüber anzusehen. Deshalb finde ich den Slogan im Rahmen der Klimakrise: “Hört auf die Wissenschaft” auch so fatal. Denn niemand verobjektiviert den Gegenstand seines Interesses so sehr wie die Wissenschaft. Muss sie vermutlich auch. Aber unsere Krise ist genau darauf zurückzuführen.
Entfremdung von Gott
Und natürlich und nicht zuletzt kommen wir zu einer ganz anderen Entfremdung, die vorhin schon anklang. Es ist die Entfremdung von Gott. Auch hier spielt eine Form der Objektivierung eine Rolle. Wir sind in Rationalität und Materialismus gefangen. Nur das, was logisch ist, was stringent ist, ist richtig und alles ist letztlich Materie. Das führt zu einer tiefen Verunsicherung und Entfremdung vom Dasein und vom Göttlichen.
Es ist so fatal, was da geschieht und wie die Seelen der Menschen verkümmern. Sie werden nicht mehr gespeist, bekommen keine Nahrung mehr, sind nicht mehr mit der Quelle allen Lebens und des ganzen Daseins verbunden. Das führt zu einer großen Irritation und Orientierungslosigkeit und letztlich dazu, das Leben als etwas Sinnloses anzusehen.
Eine mögliche Therapie könnte darin bestehen, wieder zu lernen, die poetische Wirklichkeit zu erkennen und als ebenso wichtig zu finden, wie die materialistische und rationale Wirklichkeit.
Gönne Dir ein Gedicht, gönne Dir eine Offenheit für das, was unsere fünf Sinne nicht wahrnehmen können, gönnen Dir die Offenheit für das Wunderbare. Das ist der Pfad, der uns wirklich weiterführt. Gewiss, dieser Pfad baut keine Autobahnen, keine Fernseher, auch keine medizinischen Geräte. Und ich bin nicht blind zu meinen, das alles würden wir nicht brauchen. Aber der Fernseher wird Dich nicht retten und letztlich auch nicht das medizinische Gerät. Es hilft nur, weiter zu vegetieren. Aber um zu leben, dazu brauchst Du etwas ganz anderes.
Dazu brauchst Du Poesie, und zwar nicht nur in schriftlicher Form, nicht nur als Gedicht, sondern als Lebenseinstellung. Du musst einsteigen in die dichterische Existenz des Menschen, in Deine dichterische Existenz.