Es dauert oft nur wenige Sekunden. Man begegnet jemandem auf der Straße, lernt jemanden neu kennen – und spürt es: Da ist Unsicherheit. Da ist ein Mensch, der sich selbst nicht wirklich spürt.
Und davon gibt es viele.
Menschen, die anwesend sind, aber nicht wirklich da. Die durch ihr Leben gehen, ohne sich selbst zu bewohnen. Die vielleicht sogar unter einer inneren Leere leiden, aber nicht benennen können, was eigentlich fehlt. Und doch ist es ganz einfach – zumindest im Kern: Es fehlt der Bezug zu sich selbst.
Wer sich nicht spürt, ist nicht bei sich
Wenn ich mich selbst nicht spüre, wenn ich keinen inneren Kontakt habe – wo bin ich dann eigentlich? Wer bin ich dann? Viele Menschen haben diesen inneren Kontakt verloren. Sie wissen vielleicht, dass etwas nicht stimmt. Sie spüren die Unruhe, die Leere, die Orientierungslosigkeit. Aber sie wissen nicht, was sie suchen.
Dabei ist es kein Gegenstand, kein Ziel, kein äußerer Erfolg, der diese Leere füllen kann. Sondern sie selbst.
Was wir suchen, ist das Ankommen bei uns selbst. Präsenz. Eine echte, verkörperte Präsenz im eigenen Leben. Im eigenen Körper. Im eigenen Inneren.
Die andere Seite der Wahrheit
Viele von uns sind in einer Welt aufgewachsen, in der Ratio und Verstand höchste Werte sind. Und ja – sie sind großartige Werkzeuge. Der Verstand hilft uns zu planen, zu reflektieren, zu organisieren. Die Schulen schulen genau das – und das ist wichtig.
Aber: Es ist weniger als die halbe Wahrheit.
Wenn wir ausschließlich im Denken verankert sind, verlieren wir den Kontakt zu jener Seite in uns, die uns wirklich erleben lässt, dass wir angekommen sind. Diese Seite ist räumlicher, offener, intuitiver. Sie erlaubt Mehrdeutigkeit, sie lässt Polaritäten zu. Und sie ist tief in unserem Körper und unserer Psyche verankert – nicht im Kopf.
Die Angst vor dem Schmerz
In einer Gesellschaft, die zunehmend auf Positivität fokussiert ist, versuchen viele, schwierige Gefühle zu vermeiden. Es gibt sogar psychologische Schulen, die dazu raten, sich nicht auf das Schwere einzulassen, sondern nur das Lichtvolle zu sehen.
Aber so entsteht keine Reife.
Wirkliches Wachstum braucht Konfrontation mit den Herausforderungen des Lebens. Wir brauchen sie, um innerlich Substanz zu bilden. Um Weisheit zu entwickeln. Wenn wir dem Schwierigen ausweichen, verlieren wir nicht nur den Schmerz – wir verlieren auch uns selbst.
Mehrdeutigkeit aushalten
Wir leben in einer Zeit der Eindeutigkeiten. Was richtig ist, was falsch ist. Wer gut ist, wer böse. Diese Sehnsucht nach Klarheit ist verständlich – aber gefährlich. Denn das Leben ist selten eindeutig. Wirkliches Reifen heißt, Mehrdeutigkeit zu ertragen. Polaritäten zu halten. Nicht alles auflösen zu müssen. Und darin sogar eine neue Art von innerem Frieden zu finden.
Die verlorene Mitte
Es gibt auch eine spirituelle Dimension dieser Selbstentfremdung.
Viele von uns haben den Bezug zur eigenen Mitte verloren – zu jenem inneren Ort, an dem wir aus uns selbst heraus handeln. Der Ort, an dem wir nicht nur funktionieren, sondern wirklich leben. Und dieser Ort lässt sich nur finden, wenn wir still werden.
Doch Stille ist heute Mangelware.
Sogar in Saunen läuft Musik. Stille wird als Bedrohung empfunden – dabei wäre sie der Weg zurück zu unserer Mitte. Zurück zu uns selbst. Zurück zu unserem inneren Reichtum.
Der Verlust der Transzendenz
Mit der Stille haben wir auch den Bezug zum Transzendenten verloren. Viele Menschen verstehen sich nur noch als biologische Wesen, die ein paar Jahrzehnte leben, dann sterben – und das war’s.
Doch das ist eine Verarmung unserer Selbstwahrnehmung. Wer sich nicht mehr als geistiges oder göttliches Wesen erlebt, verliert auch den Kontakt zu inneren Kraftquellen. Es fehlt dann an Tiefe, an Verwurzelung, an Halt – besonders in Zeiten, die stürmisch sind.
Wirkliche Lebenskraft kommt aus der Tiefe. Aus der Verwurzelung in uns selbst. Und letztlich: in etwas Größerem.
Du bist dein Körper
Und all das ist nicht denkbar ohne den Körper. Wir sind nicht Geist oder Körper. Wir sind nicht nur Gedanken, nicht nur Emotionen. Wir sind leibhaftig. Wir sind inkarniert. Und nur wenn wir das akzeptieren, können wir wirklich hier sein.
Im Körper zu Hause zu sein, bedeutet, sich selbst zu bewohnen. Sich selbst zu verkörpern. Und das beginnt im Kleinen.
Eine kleine Übung
Ich möchte dir zum Schluss eine einfache Übung mitgeben. Sie dauert nur wenige Sekunden – und doch kann sie dein Leben verändern:
Halte ein paar Mal am Tag für 20–30 Sekunden inne.
Spüre deinen Körper. Gehe innerlich einmal durch. Fühle: Ich bin da. Nicht im Kopf, nicht in den Sorgen, sondern ganz konkret, im Körper.
Und dann frage dich: Was fühle ich gerade? Was geht in mir vor?
Nur feststellen. Nur beobachten. Keine Bewertung, kein Handeln. Einfach nur da sein. Und mit der Zeit wirst du differenzierter spüren. Du wirst tiefer spüren. Du wirst dich spüren.
Und das ist der erste Schritt – zurück zu dir.