Warum Nähe zu anderen Menschen völlig überschätzt wird

19. Juli 2025

Wir leben in einer Welt, die Nähe feiert. Großraumbüros, Networking-Events, Partys und Empfänge – das sind die Altäre unseres modernen Dogmas. Du sollst dich öffnen. Freundschaften pflegen. Begegnung suchen. Rausgehen. Dabei sein. Alles in Ordnung – aber ist das wirklich die ganze Wahrheit?

Natürlich brauchen wir Nähe. Intimität ist ein Grundbedürfnis. Doch wenn ich sage, Nähe wird überschätzt, dann meine ich: Wir müssen tiefer hinschauen. Denn allzu oft verwechseln wir echte Begegnung mit oberflächlichem Kontakt – und verlieren dabei das Wesentliche aus dem Blick: uns selbst.

Die Falle der Dauervernetzung

Die meisten Begegnungen, die wir haben, sind geprägt von Oberflächlichkeit. Small Talk statt Tiefgang. Rollen statt Wirklichkeit. Gerade hochsensible und introvertierte Menschen spüren das deutlich: Wenn ein Gespräch nur dahinplätschert, wenn Sinn und Resonanz fehlen, dann beginnt etwas in uns zu rebellieren.

Wir entfremden uns – ausgerechnet in dem Moment, in dem wir Nähe herstellen wollen. Weil es erwartet wird. Weil alle es so machen. Weil es das moderne Gebot ist. Und so sind wir zwar mit anderen zusammen, aber nicht mehr bei uns selbst.

Nähe als Flucht vor dem Eigentlichen

Je mehr wir uns mit anderen umgeben, desto weniger müssen wir uns mit uns selbst beschäftigen. Wir müssen uns nicht unseren offenen Fragen stellen. Nicht den Wunden, die noch nicht verheilt sind. Nicht der Sehnsucht, die in uns wohnt. Nähe wird zur Ablenkung – zur Flucht vor dem, was in uns lebt.

Doch echte Nähe zu anderen beginnt mit Nähe zu uns selbst. Ohne diese innere Verbundenheit wird jede Beziehung, jede Begegnung, zu einer Inszenierung. Dann suchen wir beim anderen, was wir in uns nicht finden – und das ist ein Rezept für Enttäuschung.

Zu viel Weltnähe tötet die Seele

Das gleiche Prinzip gilt im Verhältnis zur Welt. Nachrichten, Krisen, Katastrophen – wir sind ständig informiert, ständig betroffen. Und ja, wir sollen nicht kalt werden. Aber es hilft niemandem, wenn wir uns im Leiden der Welt verlieren. Dann zerfließt unsere Kraft. Dann ersticken wir an Mitgefühl, das keine Handlung mehr kennt.

Denn zu viel Nähe, auch zur Welt, lässt keinen Raum für Spiritualität. Sie schrumpft, wenn wir keinen inneren Rückzugsraum mehr haben. Wenn wir nie auf Abstand gehen. Dann sehen wir das Ganze nicht mehr. Dann verlieren wir die Weisheit.

Der Raum, den die Seele braucht

Die Seele braucht Distanz. Nicht kalte Abgrenzung, sondern inneren Raum. Zeit zur Reflexion. Zeit für Stille. Weisheit entsteht nicht in der unmittelbaren Nähe – sie entsteht nach der Nähe. Wenn wir einen Schritt zurückgehen. Wenn wir spüren, was in uns nachklingt.

Auch Jesus hat das gelebt. Er war mit Menschen – und zog sich zurück. Er heilte, predigte, begegnete – und suchte die Stille. Immer wieder. Diese Rückbindung an sich selbst, an das Göttliche, war seine Kraftquelle. Er ging in die Welt, ohne sich in ihr zu verlieren. Und genau das ist der Weg: in Bezogenheit bei sich bleiben.

Bezogenes Bei-sich-Sein

Was wir brauchen, ist nicht mehr Nähe – sondern ein neues Verständnis von Nähe. Es geht um bezogenes Bei-sich-Sein. Ich bin bei mir, in Kontakt mit meinem Innersten – und aus dieser Haltung trete ich in Beziehung mit anderen. Nicht als Bedürftiger. Nicht als Suchender. Sondern als Gegenüber.

Das bedeutet nicht, autonom und unberührbar zu sein. Im Gegenteil. Dieses Bei-sich-Sein gibt mir die Fähigkeit, mich wirklich berühren zu lassen – ohne mich zu verlieren. Es gibt mir die Kraft, da zu sein – und doch in mir zu bleiben. Denn ich weiß, dass ich auch wieder zurückkehren kann. In meinen Raum. In meine Stille. In meine Quelle.

Nähe als Reifeprüfung

Viele unserer Nähekonzepte stammen aus alten Wunden. Aus der kindlichen Sehnsucht, ganz geborgen zu sein. Eins zu werden mit dem anderen. Aufzugehen, sich zu verlieren. Doch das ist kein reifer Weg. Auch nicht in Paarbeziehungen oder Freundschaften.

Reife heißt: Ich bin in Beziehung – und bleibe mir treu. Ich suche Verbindung – aber nicht Verschmelzung. Ich kann Nähe zulassen – und Distanz wahren. Denn ich kenne den Weg zu mir selbst.

Zwei Fragen, die du dir stellen solltest

  1. Wenn du sehr viel Nähe suchst: Hast du dich noch im Blick? Spürst du dich noch?

  2. Wenn du sehr viel Distanz brauchst: Bist du noch in echter Bezogenheit?

Zwischen diesen beiden Polen liegt ein Weg – der Weg zu dir selbst. Der Weg der inneren Reife. Der Jesusweg. Der Weg derer, die der Welt begegnen können, ohne sich in ihr zu verlieren.


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