Wie Du mit Deiner inneren Wunde leben kannst, Teil 1

12. November 2022
Sind wir nicht alle irgendwie verwundet, sind wir nicht alle verletzt worden in unserem Leben, spürt nicht eine jede, ein jeder von uns die immer wieder aufkeimenden Schmerzen, die uns in unserem Leben belasten und wehtun? Und nicht nur das. Sie hindern uns auch manchmal, das Gute und das Richtige zu tun, sie beschränken uns in unserem Leben.
Oder wer hat noch nicht erlebt, wie man auf ein Wort oder eine Geste reagiert und nachher denkt, warum habe ich nur so wütend oder gekränkt reagiert? Oder wer hat noch nie die Erfahrung gemacht, dass man bei bestimmten Themen und bei einer bestimmten Art angesprochen zu werden innerlich erstarrt und sich versteift.
Das alles ist Ausdruck einer inneren Wunde, die wir mit uns herumtragen.
Heute soll es genau darum gehen, wie wir mit dieser Wunde leben können.
Du kannst jetzt sagen, geh zum Therapeuten und dann ist es gut. Ja, schön, aber oft reicht das längst nicht aus. Es ist doch nicht so, dass alle nach einer Therapie diese innere Wunde nicht mehr spüren, dass alles geheilt ist.
Ich möchte in diesem und einem weiteren Video über das Verwundetsein sprechen und Dir einerseits aufzeigen, wie es dazu kommt, welche Auswirkungen entstehen und schließlich was Du tun kannst, damit Du besser mit der Wunde in Dir lebst.


Trauma uns Missbruch

Schauen wir zunächst, wie diese Wunden überhaupt entstehen. Da kommt als Erstes und am deutlichsten natürlich alles in den Blick, was Missbrauch genannt wird. Missbrauch ist ja ein Handeln gegen meinen Willen, ein Benutztwerden meiner Person und damit ein Handeln gegen meine Würde und mein Recht auf Unversehrtheit. Da ist jemand, der sich meiner bemächtigt und mich schlicht und einfach benutzt.
Bekannt sind alle Bereiche des sexuellen Missbrauchs und auch alle Gewalterfahrung kann man darunter zählen, auch dort gehört ja ein Benutztwerden dazu.
Ich möchte Deinen Blick aber auch auf den emotionalen Missbrauch wenden, wenn Kinder als Ersatzpartner herhalten müssen, als Kuscheltiere für die Bedürfnisse der Eltern, wenn Kinder jemand anderes ersetzen müssen, vielleicht einen früh verstorbenen Bruder. Oder wenn an Liebesbekundungen Bedingungen geknüpft sind. Das sind Formen des emotionalen Missbrauchs, die ganz klar am Bedürfnis der Kinder vorbeigehen.
Und noch einen Bereich möchte ich hier erwähnen, der in den letzten Jahren immer mehr Aufmerksamkeit erfährt. Es geht um den spirituellen Missbrauch. Gurus, Priester, Meister und Meisterinnen nutzen ihre Macht für eigene Bedürfnisse und für die eigene Hybris aus. Nicht das Wohl und die Entwicklung des Einzelnen stehen im Mittelpunkt, sondern das eigene Bedürfnis, Macht zu haben und andere beeinflussen zu können. Das kommt sehr häufig im patriarchalen System vor, wo es Menschen gibt, die besonders “heilig” sind, erleuchtet, besser als andere und näher an Gott. Die, die es schon können und es erfahren haben. Dann entsteht diese gefährliche Melange aus dem Bedürfnis nach Spiritualität, Abhängigkeit und Narzissmus.
Was für einen unendlich schlimmen Schaden Missbrauch anrichtet, kann man sich kaum vorstellen. Solche Wunden trägt man immer mit sich herum und auch nach einer Traumatherapie wird man immer noch die Narben spüren.

Sensible Kinder

Aber es geht auch subtiler, es muss nicht gleich der große und empörende Missbrauch stattgefunden haben. Es geht viel verbogener und so, dass man es gar nicht wirklich erkennt und doch ist es wirksam. Besonders sensible Kinder kennen das, dass sie in ihrer Sensibilität nicht gesehen werden. Es gibt Kinder, die einen besonderen Sensus haben für das Feine, auch das Spirituelle und das Subtile. Wenn das aber nicht wertgeschätzt wird, wenn es nicht gesehen und geachtet wird, dann führt das auf Dauer zu einer Art Ätzung im Inneren, keine Wunde durch einen kurzen und schnellen Schnitt, sondern eine Wunde, die über Dauer entsteht. Überhaupt gilt das für alle, die nicht in ihrem Wesen, in ihrer Eigenart gesehen wurden. Oder auch Kinder, die insgesamt wenig Anerkennung erfahren haben und dadurch im Leben irritiert und verletzt sind.
Es gibt so viele Variationen, wie Wunden entstehen. Wie auch immer es passiert, es ist ein Vermächtnis, dass man lange, wenn nicht gar für immer mit sich herumträgt.

Ich bin davon überzeugt, dass niemand unverwundet durch das Leben geht. Es scheint ein Teil des Menschseins zu sein, diese Wunde angeeignet zu bekommen. Wir sind alle verwundet – auch ich spüre immer wieder diese Stelle in mir.
Und es gibt viele Menschen, die von dieser Welt verwundet sind, davon, dass sie nicht so sein dürfen, wie sie sein könnten, wie sie sein sollten und möchten. Immer und immer wieder treffen sie auf das Dunkle, das Unvollkommene und das Hässliche und Böse. Das nagt auf Dauer sehr an der eigenen Seele und ist Ausdruck der Wunde, dass diese Welt nicht der Himmel ist.

Alkohol, Medikamente...

Und was passiert, wenn wir diese Wunde spüren und uns dessen nicht bewusst sind, wenn wir noch nicht daran gearbeitet haben, nicht einmal wissen, was mit uns los ist?
Die einen nehmen Tabletten, trinken Alkohol, damit sie die Wunde nicht spüren müssen. Andere essen sehr viel und hoffen dadurch, die innere Leere zu stopfen. Überhaupt sind Süchte ein ganz typisches Ausdrucksmittel für die Wunde in uns. Mit dem Wunsch: Ach, möge ich sie doch nicht spüren!


Aber man kann es auch in Beziehungen sehen. Da werden dann überbordende Erwartungen an den Partner gestellt, da muss die Partnerin alle Defiziterfahrungen ausgleichen und kann damit nur überfordert werden.
Eine nicht bewusste und noch nicht bearbeitete Wunde ist immer uferlos, will immer alles und selbst, wenn sie alles bekäme, würde es nie reichen.
Das ist meines Erachtens ein Grund für das Scheitern vieler Ehen und Beziehungen.


Krankheit 

Es gibt viele, die den Schmerz ihrer Wunde in einer Krankheit ausdrücken. Krankheit ist ein tiefer und bedeutsamer Ausdruck, es ist eine Art der Kommunikation. Der Psychoonkologe Simonton hat mal gesagt, die Botschaft einer jeden Krankheit heißt Veränderung. Und das trifft auch auf die Wunde zu. Die Wunde sucht nach Trost, sucht nach Heilung und wenn das nicht klappt, wenn nichts geschieht, dann werden andere und in diesem Fall körperliche Mittel eingesetzt.
Bei Männern ist es übrigens so, dass sie durch ihre Wunde manchmal taub werden, gefühllos und nicht mehr in der Lage sind, wirkliches Mitgefühl zu entwickeln und zu zeigen. Auch das ist ein Mittel, um die Wunde abzuschirmen und nicht spüren zu müssen.
Das Fatale ist aber, dass die Wunde sich dann andere Formen sucht. Jede Wunde will gespürt werden und wenn ich sie blockiere und selber taub dafür werde, dann wird sich die Wunde andere Wege suchen, manchmal völlig andere. Ein Beispiel ist Gewalt, auch ein Männerthema, andere leiden lassen, andere bestimmen. Und da wären wir wieder beim Missbrauch. Es ist ja hinlänglich bekannt, dass Täter und Täterinnen oft selber missbraucht wurden.
Daran erkennt man, dass eine nicht bearbeitete und nicht versorgte Wunde einen Teufelskreis in Gang setzt, der nur Unheil verursachen kann.

Einbruch des Göttlichen

Es gehört ja zu den ganz üblichen Wegen in der Psychotherapie, zu dem Punkt zu kommen, wo der Schmerz ist und wo die Wunde in ihrem Schmerz sein darf. Aber manchmal ist es auch eine Erfahrung, eine Begebenheit, echte Liebe kann der Anlass sein, dass die Wunde sich unverstellt zeigt.
Aber auch eine spirituelle Erfahrung, der Einbruch des Göttlichen in meinem Leben, das Hineingenommen Sein in ein größeres Umfangen können dafür sorgen, dass ich plötzlich meine Wunde spüre, dass ich sie da sein lasse, dass ich zu ihr stehe, dass ich sagen kann, ich bin verletzt und ich darf es sein.
Sich zu erlauben, verletzt zu sein und verwundet ist aber etwas völlig anderes als Selbstmitleid. Selbstmitleid hilft nicht, sondern zieht herunter, sie raubt Dir Deine Würde.
Wenn Du dazu stehen kannst, dass Du verwundet bist, dass Du einen Schmerz in Dir trägst, wenn Du sagen kannst, ja, so war es in meinem Leben, so war meine Vergangenheit und jetzt ist es vorbei. Dann entsteht eine aufrechte Kraft in Dir, die nicht gleich alles schön und lieblich macht, aber die dafür sorgt, dass Du Deine Wunde tragen kannst.


Die aufrechte Kraft

Das ist der Anfang, das ist der Beginn eines Weges, der meistens kein wirkliches Ende findet. Manchmal schon, aber oft bleiben auch nach jahrelanger Therapie noch Restschmerzen übrig. Und genau dann brauchst Du die aufrechte Kraft, die bereit und in der Lage ist, das zu tragen.

Im nächsten Video möchte ich gerne darüber sprechen, was Du tun kannst, damit Du in der Lage bist, Deine Wunde zu tragen und welche Möglichkeiten Dir offen stehen, Dich selber in diesem Prozess zu unterstützen.
Der Umgang mit der Wunde ist für mich ein zutiefst spiritueller Prozess, weil es ein existenzieller Prozess ist, ein Prozess, der unmittelbar mit dem Leben zu tun hat.
Falls Du noch Fragen zu diesem Thema hast, so lass es mich wissen, damit ich sie im zweiten Teil dieser kleinen Reihe mit einbeziehen kann.


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