Text aus meinem wöchentlichen YouLetter

19. Oktober 2024

Ich erinnere mich am Anfang meines klösterlichen Lebens an folgende kleine Begebenheit: Ein junger Bruder war zuständig, die Lichter in der Kirche vor dem Gebet anzumachen. Jeden Morgen kam zudem eine ältere Frau, die sich in der hintersten Reihe hinsetzte und still betete. Dort war in der Regel kein Licht. Der junge Bruder meinte es gut und machte das Licht über dieser Frau an. Daraufhin ging die Frau zu einer anderen Bank, die im Dunkeln war. Aber auch hier machte der junge Bruder das Licht an, und so ging es noch einmal. Immer verfolgte der junge Bruder die Frau mit dem Schein der Lampe. Irgendwann gab er auf.

Der junge Bruder war der Meinung, dass jeder, der in die Kirche und zum Gottesdienst kommt, Licht braucht und haben will. Doch das stimmt nicht; viele wollen einfach nur da sein, dem Geschehen folgen und einfach ein wenig eine Beobachterin oder ein Beobachter sein.

Ich muss immer wieder an diese kleine Szene denken und frage mich dann auch hinsichtlich unserer Gottesdienste: Wie muss man eigentlich sein, um dabei sein zu dürfen? Darf man nur beobachten oder ist volle und bewusste Teilnahme ein Muss?

Ich weiß, nur Beobachter des Lebens zu sein, das kann nicht funktionieren. Man muss sich ins Leben begeben, teilnehmen, Fehler machen und Verluste sowie Glück erleben. Und doch berührt es mich sehr, wenn ich einfach mal nur das Leben oder auch den Gottesdienst nur beobachten darf. Ich bin dann dennoch ganz dabei, nehme aber so gut wie keinen Einfluss. Ich schaue zu und bekomme viel mit.

Ich hatte vor Wochen schon mal erwähnt, dass ich gerne die Webcam von Reykjavik anschaue. Ich sehe einen kleinen See, eine Straße, im Hintergrund eine Kirche. Und dann sehe ich die Menschen, wie sie ihres Weges gehen. Nichts Spektakuläres, keine Katastrophe, kein Unfall, keine Revolution – einfach Leben. Und ich fühle mich beschenkt und berührt, daran, an dieser Schlichtheit des Seins teilhaben zu dürfen.

Und so sitze auch ich manchmal gerne in Kirchen, in denen gerade ein Gottesdienst gehalten wird. Ich will nichts sagen, nichts singen, will keinen Friedensgruß geben und mich auch nicht zum Evangelium äußern. Ich will einfach diese sanfte Berührung mit dieser besonderen Wirklichkeit spüren, möchte meine Hand und meine Wange an diese zarte Membram legen, die an mein Leben grenzt. Das geht besonders gut in Ländern, deren Sprache ich nicht gut genug spreche, um sie zu verstehen. Denn dann kann ich manche wirren Gedanken oder so manche Schlampigkeit einfach übersehen und tauche stattdessen in diesen Raum ein, der nur geöffnet ist, solange das Geschehen stattfindet. Ich spüre die Frömmigkeit der Menschen, das Gebet und manchmal auch die Not und die Freude.

Und manchmal gehe ich auch mitten in der Stadt in die Beobachterrolle. Ich schaue mir alles an, nehme es bewusst wahr und kann das Leben und die Existenz selber erspüren. Fast bin ich dann versucht, mich zu verneigen – verneigen vor dem Sein, vor der Verwirklichung des göttlichen Geistes als Welt.

Vorherige Briefe für dich:

  • Sehr schön geschrieben. Ich genieße es , wenn ich Zeit dazu habe, sehr zu beobachten, wahrzunehmen ( z. B. In der Fußgängerzone). Ich versuche dann einfach wahrzunehmen ohne zu bewerten. Das ist natürlich nicht immer leicht.
    Im Gottesdienst fällt es mir nicht immer so leicht. Ich fühle mich doch irgendwie Aufgefordert mitzumachen. Auch wenn ich es nicht immer gut finde dieses zu tun. Wenn ich es „schaffe“ mich einfach dem Geschehen hinzugeben kann dieses eine gute Erfahrung sein.

  • Lieber David,
    mir geht es ähnlich. Einfach nur schauen und wahrnehmen. In der Zeit für nichts verantwortlich sein. Vor allem nicht werten und urteilen. Da gab es schon sehr erhellende Augenblicke und Erfahrungen und es entfalten sich vor meinen Augen und Ohren unerwartete Muster und eben dies empfinden vom Sein an sich und der Verbundenheit mit dem All Einen bis zum Eingebunden sein ins Göttliche.
    Liebe Grüße
    Ulrike

  • Ich bin zur Zeit ganz bewusst als Beobachter unterwegs, im Supermarkt, der Tankstelle, im Bäckerladen. Immer sind es beglückende Momente, schöne Erlebnisse, die ich mit nach Hause nehme und die mir ganz viel Freude schenken.

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