Wenn man in diesen Tagen die Nachrichten schaut, dann kann man manchmal regelrecht verrückt werden. Das viele Leid, die vielen Opfer, so viele Unschuldige, die getötet und verletzt werden - auf allen Seiten und egal, wohin man schaut. Und da kann einem das Mitleid fast irre machen und man könnte verrückt werden. Ja, ist es nicht normal und menschlich, Mitleid zu haben und zu empfinden? Wäre es nicht sogar unmenschlich, hart und ungerecht, wenn wir auf Mitleid verzichten würden? Müssen wir nicht helfen, damit es anderen besser geht? Müssen wir nicht für bessere Verhältnisse sorgen, wenn wir die finanziellen Mittel dazu haben, wenn wir Zeit haben und uns einsetzen können?
Ist Helfen egoistisch?
Es klingt wie ein guter Reflex, dass wir helfen wollen, weil wir Gutes tun wollen. Wir möchten, dass es anderen besser geht, wir wollen Ungerechtigkeit ausgleichen. Ja, das kann sein. Oder ist es so, dass ich das Leid einfach nicht sehen kann und mir durch mein Helfen ein angenehmeres Leben verschaffen möchte? Helfe ich durch die Hilfe bei anderen im Grunde nur mir selbst? Mein ehemaliger Psychologiedozent sagte uns einmal, dass der Wunsch zu helfen immer aus Egoismus entsteht. Im Grunde will man nur sich selbst helfen, man will dafür sorgen, dass man diese Bilder aus dem Gedächtnis bekommt, dass man sich gut fühlt, weil man so wunderbar geholfen hat, damit man anschließend sein bequemes Leben fortsetzen kann, die Beine hoch und der Fernseher wird wieder angeschaltet. Das ist natürlich ein hartes Urteil, und ich teile seine radikale Meinung nicht. Aber es ist doch etwas dran, man kann unser Verhalten durchaus so betrachten. Bei weitem nicht alles geschieht wirklich selbstlos und für die Menschen.
Die verlorene Distanz
Was aber ist nun mit Mitleid, warum kann Mitleid schaden? Mitleid ist anders als Mitgefühl. Beim Mitleid fühle ich das, was der andere fühlt. Ich spüre die Schmerzen, die Not und Angst - natürlich nur in einem begrenzten Maße, aber es ist eben dieses Mitfühlen mit dem anderen, das das Mitgefühl ausmacht. Es ist damit Ausdruck dafür, mit dem anderen zu sein, dem anderen ganz nah zu sein. Und das kann sich für beide Seiten sehr gut anfühlen und unterstützend wirken - und kann doch gerade dadurch fatal sein. Denn durch diese Verbundenheit verlieren wir unsere Distanz - dein Leid wird dann mein Leid. Und wir beginnen langsam eine Einheit zu bilden, ich setze mich für den anderen ein, werde zur Speerspitze des Kampfes für Gerechtigkeit und Recht für das Wohlergehen dieses Menschen.
Sei ein Opfer!
Mitleid hat noch eine besondere und bittere Eigenschaft. Es macht nämlich den anderen zum Opfer. Es definiert genau, wer Opfer und wer Täter und wer Helfer ist. Diese Rollenzuschreibung ist ganz wichtig beim Helfen. Wehe dem Opfer, das sich gar nicht so sieht, dann werden die Hilfsleistungen schnell geringer und vielleicht sogar eingestellt. Wer Mitgefühl will, muss Opfer sein oder sich zumindest so verhalten. Das ist ja auch der Grund, warum Bettler unten auf dem Boden sitzen, warum manche Familien ihre Kinder zum Betteln in die Stadt schicken. Weil hier das Opfer noch klarer zu sehen ist. Kinder sind fast immer Opfer, weil sie die Umstände ihres Lebens noch viel weniger beeinflussen können als Erwachsene. Das rührt uns an, wir bekommen Mitleid und geben mehr, als wenn ein Mann im Anzug auf der Straße steht und um Geld bettelt - der natürlich kaum eine Chance hat. Als Bettler muss man sich in einer gewissen Weise geben, damit man Geld bekommt.
Du wirst Teil des Systems
Ich möchte mich nicht lustig machen über andere, und mir geht es vor allem nicht um die Bettler oder um die Kinder auf den Straßen. Sie haben Unterstützung und Hilfe verdient. Mir geht es um die, die an ihnen vorbeigehen und die, die ihnen etwas geben. Mir geht es um uns. Wenn Mitgefühl dein Motor ist, wenn du immer wieder Mitgefühl spürst, dann besteht die Gefahr, dass du durch dein Helfen Teil des Systems und damit Teil des Problems wirst. Das kann man in professionellen Zusammenhängen immer wieder erkennen und feststellen. Wenn sich ein Mitarbeiter einer Unterstützerorganisation zu sehr für einen Menschen einsetzt, dann entsteht eine Art Dyade und eine Identifikation. Und Identifikation macht immer blind. Dadurch aber sieht man nicht mehr richtig hin. Man beginnt selber einzusteigen in Täter- und Opferdenken, man stellt sich auf die Seite der Opfer und stellt sich gegen die Täter oder Täterinnen. Das kann in bestimmten Situationen natürlich richtig und wichtig sein - gerade wenn Gewalt und Missbrauch festgestellt werden. Aber auf Dauer wird dadurch ein wirkliches Helfen verhindert.
Das Drama-Dreieck
Ich möchte dir diese Dynamik mit dem Drama-Dreieck besser und vertiefter erklären. Das Drama-Dreieck stammt aus der Transaktionsanalyse. Dieses Dreieck besteht aus drei verschiedenen Rollen, die man in Konfliktsituationen einnehmen kann. Denn jede Situation, bei der ich helfe, ist solch eine Konfliktsituation. Da gibt es einmal das Opfer, dem etwas angetan wurde. Dann gibt es den Täter, der dem Opfer etwas angetan hat. Und dann gibt es schließlich noch den Retter, der dem Opfer zu Hilfe kommt. Dieses Drama-Dreieck beschreibt, wie ein Drama beginnt und sich organisiert. Denn schnell kann es sein, dass die Rollen getauscht werden. Wenn das Opfer nicht macht, was der Helfer will, dann wird der Helfer schnell zum Täter, wird ärgerlich und übt Druck auf das Opfer aus. Oder das Opfer wird zum Täter, da es sich gegen den Retter wendet, weil der ihn bevormundet. Oder der Täter versucht alles wieder gut zu machen und zum Helfer zu werden, was den eigentlichen Helfer zum Täter werden lassen kann. Und so geht das Karussell munter immer weiter. Diese Dynamik findet nur schwer ein Ende, weil sich jeder im Recht sieht und die eigene Rolle behalten möchte oder muss. Vielleicht hast du das selbst schon einmal erlebt, wie du jemandem helfen wolltest, der das brüsk abgelehnt hat, und welche Emotionen du dann hattest - vermutlich war von Sanftmut nicht mehr viel zu spüren. Und vielleicht hast du auch schon erlebt, wie dir jemand helfen wollte und dabei bevormundend war und einfach über dich bestimmte. Im Krankenhaus kann man das gut erfahren, überhaupt überall dort, wo Hilfe stark organisiert ist.
Die Dynamik des Mitleids
Das Dramadreieck ist die Dynamik des Mitleids. Durch Mitleid werde ich Teil eines unguten Systems und trete in eine Dynamik ein, die nicht in erster Linie auf Helfen aus ist, nicht auf Veränderung und Bereitstellung von Unterstützung. Wirkliches Helfen muss andere Ziele haben, muss anders gehen. Vor allem darf wirkliches Helfen nicht die Verantwortung übernehmen, wenn es sich nicht gerade um Kinder handelt oder um Menschen, die die Verantwortung gar nicht oder zur Zeit nicht für sich wahrnehmen können. Damit beginnt nämlich eine andere Dynamik, wenn ich beginne, Verantwortung dort zu belassen, wo sie hingehört und wo sie auch eigentlich liegt. Daher kommt ja, die inzwischen hoffentlich nur noch in Witzen verwendete Floskel der Krankenschwester: "Wie geht es uns denn heute?" Es ist Ausdruck einer Art von Identifikation, es ist Ausdruck dafür, dass der Patient als Individuum nicht existiert und es ist auch Ausdruck dafür, dass es nicht wichtig ist, wie sich der andere fühlt, weil es nur ein Wir-Gefühl geben kann.
Verantwortung ist der Ausweg
Der Ausweg aus dem Drama-Dreieck und aus der Mitleids-Falle lautet daher auch, Unabhängigkeit zu bewahren. Jede und jeder behält die eigene Verantwortung für sich und sein Leben. Wenn ich als Helfer und auch als Zuschauer einer Fernsehreportage für mich klar habe, dass ich die Verantwortung für das jeweilige Leben dort belasse, wo sie liegt, dann bin ich in einer ganz neuen Position und kann die Situation klarer und tiefgehender erfassen. Eine Identifikation trübt immer meine Wahrnehmung. Aber eine getrübte Wahrnehmung hilft dem Helfen nicht und hilft nicht, eine Situation - egal wo sie ist - besser einzuschätzen und mich dazu zu positionieren. Du hast Verantwortung für dein Leben und jeder andere Mensch hat Verantwortung für das eigene Leben. Das ist der ganz wichtige Grundsatz. Ich helfe nicht aus Mitleid und mache dich zu einem Opfer oder übernehme mehr Verantwortung für das Helfen, als mir zusteht. Ich helfe aus Mitgefühl und gebe dir das, was ich geben möchte und wo ich den Eindruck habe, dass es das Richtige ist. Dafür frage ich vorher, was denn mein Gegenüber braucht und was er oder sie haben möchte.
Ein Beispiel: Viele Menschen überlegen, ob sie einem Bettler einen Euro geben oder nicht. Und dann kommt oft der Satz: "Davon wird ohnehin nur Alkohol gekauft." Das kann sein, muss aber nicht. Wir wissen es nicht, es kann auch eine Ausrede sein, keinen Euro zu geben. Aber entscheidender ist doch, dass es nicht in deiner Verantwortung liegt. Aus Mitgefühl gibst du vielleicht einen Euro. Und dann liegt die Verantwortung beim Bettler, was er oder sie damit macht. Du bist frei und er ist auch frei - du willst aber bestimmen, was der Bettler damit macht. Mit welchem Recht?
Ich lasse heilen
Es gibt aber noch einen ganz anderen Aspekt, warum Mitleid nicht hilft und warum das Drama-Dreieck schadet. Mir geht es um eine andere Art des Helfens, das nicht von mir oder dir kommt. Es gibt nämlich ein Einwirken in unser Leben und in dieser Welt, ein Einwirken, hin zu einer Lösung, zur Heilung und zur Unterstützung. Es ist ein göttliches Einwirken - was Helfen und Unterstützung nicht ersetzen soll. Aber es gibt eben für spirituelle Menschen oft sehr sicht- und fühlbar den Segen, der durch diese Welt strömt und in allem und jedem Gutes bewirken will. Dieser Kraftstrom des Heilens, er ist da und er will wirken und bewirken, helfen, unterstützen, verändern und alles zum Guten führen.
Raum schenken
Diesen Kraftstrom wirken zu lassen und auf ihn zu vertrauen, kann eine wirklich große Ressource für Helfer und für Opfer sein. Es ist dabei nicht einfach ein Abwarten und passiv Sein. Es ist die Erweiterung des Systems, in dem das Problem entstanden ist, und das durch diese Erweiterung einen neuen Impuls erfährt.Oft geschieht dies hintergründig, fast im Geheimen, neben allen aktiven Maßnahmen, die wichtig und notwendig sind. Aber es kann gerade die Helfer unterstützen indem man einsieht, nicht alles bewirken zu müssen, bewirken zu können und in allem und darüber hinaus eine andere Kraft einzuladen und ihr Raum zu schenken.