Wer ist schuld an deinem Leid?

23. September 2023

Eine schwere Krankheit, das Verlassenwerden, Einsamkeit oder die abendliche Traurigkeit, die dich jeden Tag überfällt. Es gibt viele Augenblicke im Leben, in denen du leiden kannst und dich fragst: Warum ich? Und woher kommt das? Habe ich das selbst verursacht, oder war es jemand anderes?


Gericht oder Karma?

Das sind grundlegende Fragen der Menschen, Fragen, die die Grundlage vieler Religionen bilden und auf die jeder Mensch eine eigene Antwort finden muss. Im Christentum gibt es dafür das Konzept des göttlichen Gerichts nach der Vollendung der Zeit, während im Buddhismus das Konzept des Karmas existiert. Beide sind Versuche, dem Leiden eine Perspektive und einen Sinn zu geben. Sie bieten entweder die Vorstellung, dass Gott alles ausgleichen und die Tränen trocknen wird, oder dass unser Leiden in einem späteren Leben belohnt wird, und wir möglicherweise dem Kreislauf der Wiedergeburt entkommen können.

Bei einer Trennung kann man das sehr oft beobachten. Da stellen sich beide die Frage: Warum passiert das alles, und trage ich selbst dazu bei?

Es ist offensichtlich, dass die Antwort auf diese grundlegenden und scheinbar einfachen Fragen alles andere als leicht ist und eine sorgfältige und gründliche Betrachtung erfordert.


Schuldig oder nicht-schuldig?

Ich frage mich zum Beispiel, ob wir überhaupt von Schuld sprechen sollten? Wir neigen oft dazu, schnell einen Schuldigen zu suchen oder darauf hinzuweisen, dass wir selbst nicht schuldig sind. Wir neigen auch dazu, alles aus der Perspektive zu betrachten, wer schuld ist. In vielen Fernsehkrimis dreht sich alles um diese Frage: Wer war es, wer ist schuldig?

Aber warum stellen wir nicht einfach die Frage nach den Ursachen? Wer hat was verursacht, und wo hat das Drama begonnen? Statt uns auf die moralische Frage der Schuld zu konzentrieren, könnten wir uns eher mit der technischen Frage nach der Ursache für ein Verhalten oder einen Zustand beschäftigen.

Doch oft bevorzugen wir die moralische Frage nach der Schuld gegenüber der eher technischen Frage nach der Ursache. Denn wenn ich weiß, wer schuldig ist, weiß ich auch, wer moralisch unter mir steht. Wenn du schuldig bist, bin ich es nicht, und ich kann mich über dich erheben.

Es gibt jedoch auch noch eine andere Sichtweise. Einige Menschen fühlen sich tatsächlich gerne selber schuldig, sie sehen es als Bestätigung ihres Selbstbildes an. Sie sagen oft: "Ich wusste es." Dies bestätigt ihr Selbstbild.

Aber natürlich ist die Frage nach Schuld keine Kleinigkeit und kann nicht einfach durch das Wort "Ursache" ersetzt werden. Für Menschen, die zum Beispiel Missbrauch erlebt haben, ist es wichtig zu wissen, dass sie nicht schuldig sind, sondern der Täter die Schuld trägt. Besonders bei Missbrauch neigen Menschen dazu, Täter und Opfer zu vertauschen.

Bei Schuld geht es immer um Täter und Opfer, und wie gerade gesagt, ist diese Zuordnung in bestimmten Fällen wichtig.

Das sind jedoch extremere Beispiele. In unserem Alltag geht es meistens nicht darum, Täter oder Opfer zu sein oder zu identifizieren.


Zwei Ursachen von Leid

Ich sehe zwei wichtige Ursachen, die häufig zu Leid führen. Die erste betrifft familiäre Situationen. Die Familie kann eine Quelle von Freude, Sicherheit und Zusammengehörigkeit sein, aber auch von Vorwürfen, Streitigkeiten und dem Abbruch von Kontakten. Beides ist möglich.

Ich habe bereits über generationsübergreifende Dynamiken gesprochen. Meine Generation ist zum Beispiel immer noch stark mit dem Zweiten Weltkrieg verbunden, nicht weil wir ihn selbst erlebt haben, sondern weil unsere Eltern damit verbunden waren. Mein Vater kämpfte im Krieg, und meine Mutter erlebte die Bombardierungen hautnah mit. Diese Traumatisierungen haben mehrere Generationen betroffen und wurden von einer Generation zur nächsten weitergegeben.

Der Krieg hat immer noch Auswirkungen auf uns und verursacht nach wie vor Leid. Traumata aus der Vergangenheit dringen immer wieder in unser Leben ein.

Betrachten wir das Ganze aus einer anderen Perspektive, kommen wir zu karmischen Verstrickungen, der zweiten wichtigen Ursache von Leid. Karmische Verstrickungen  müssen nicht zwangsläufig aus unserem eigenen vorherigen Leben stammen - zumal ich mir über die Existenz eines Karmas nicht sicher bin - aber es gibt meiner Meinung nach Verstrickungen, die nicht nur auf familiärer Ebene auftreten, sondern aus früheren Leben in unser gegenwärtiges Leben hineinragen und dort Verwirrung und Leid verursachen können.

Dieses Leid kann sowohl psychischer als auch körperlicher Natur sein. 

Es können also ganz andere Faktoren für dein Leid verantwortlich sein.


Deine Verantwortung

Und doch trägst du wahrscheinlich auch einen Teil der Verantwortung für dein Leiden, und es ist möglich, dass du es verursacht hast. An dieser Stelle möchte ich eine wichtige Unterscheidung einführen, die ich aus dem Buddhismus übernommen habe: die Unterscheidung zwischen Leiden und Schmerz. Dies ist äußerst hilfreich. Leiden entsteht, wenn ich meinen Schmerz nicht akzeptieren kann. Deshalb wird in buddhistischen Meditationen so viel Wert auf Akzeptanz gelegt, denn Ablehnung ist es, die aus Schmerzen Leiden macht. Diese Ablehnung kann beispielsweise von deinen Erwartungen an das Leben herrühren. Wenn du ein inneres Bild von deinem Leben hast, in dem Schmerz keine Rolle spielen darf, wenn du dich selbst als Sieger siehst und glaubst, immer gewinnen und geliebt werden zu müssen, dann entsteht aus dem Schmerz, nicht geliebt zu werden oder zu verlieren, Leiden.

In meinem Video-Titel habe ich allerdings das Wort "Leid" als einen Sammelbegriff für Schmerz und Leiden verwendet. Aber an dieser Stelle ist es sinnvoll, beide voneinander zu trennen. Denn wenn wir das tun, wird deine Verantwortung und, wenn du so willst, auch deine Schuld an deinem Leiden deutlicher. Du leidest in deinem Leben, weil  du das, was du negativ bewertest, nicht akzeptieren kannst. 

Die Beendigung deines Leidens - nicht deines Schmerzes - besteht darin, deinen Schmerz als Ausdruck des Lebens zu betrachten. Mit anderen Worten: Akzeptiere deinen Schmerz, um nicht zu leiden.


Lust an der Schuld

Wir sind eine Gesellschaft, die oft nach den Schuldigen sucht und sich auf ihre moralische Überlegenheit etwas einbildet. Diese Suche führt oft zur Empörung, wenn eine Situation entstanden ist, in der ein Mensch schuldig ist und ein anderer zum Opfer wurde. Leider weckt Empörung oft das Schlimmste im Menschen und führt zu einer anderen Art von Überlegenheit. Empörung hilft dem Opfer nicht, sondern entfremdet es.

Sobald ein Schuldiger gefunden ist, beruhigt sich dann alles. Der Fall ist gelöst - ich war es nicht, du warst es nicht, aber er oder sie war es. Es ist ähnlich wie in einem Krimi, wenn der Mörder gefasst wurde, endet der Film.

Und warum suchen wir überhaupt nach einem Schuldigen? Weil wir die Offenheit und die Unerklärlichkeit unseres Schicksals oft nicht ertragen können. Vieles bleibt jedoch im Dunkeln und lässt sich nicht gänzlich erklären. Es kann sogar besser sein, die Fragen nach Schuld und Ursache unbeantwortet zu lassen, anstatt das Leben mit vorschnellen Schlüssen zu vereinfachen.

Die Suche nach Schuld hat jedoch einen großen Vorteil: Sie ermöglicht uns, Vorwürfe zu erheben, und es gibt wenig, was sich besser anfühlt, als einen gerechtfertigten Vorwurf. Deshalb fällt es uns oft schwer, davon abzulassen, weil es sich so gut anfühlt. Damit geraten wir jedoch in eine Falle. Die Rollen sind festgelegt, Gut und Böse sind definiert, und die eigentliche Entwicklung, die in der Situation steckt, gerät in den Hintergrund.


Es kann ganz anders sein...

Entwicklung tritt erst ein, wenn wir erkennen, dass die Rollenverteilung nicht so klar ist, wie wir dachten. Plötzlich erkennen wir, dass auch wir selbst Anteil daran hatten oder dass derjenige, den wir als Täter oder Verursacher betrachteten, nicht nur aus Bosheit oder Dummheit gehandelt hat, sondern ebenfalls verstrickt ist. Dann beginnt etwas aufzuweichen, es beginnt zu fließen, und oft sind es Tränen, die fließen.

Ich glaube, dass wir zu einem neuen Verständnis von Leiden, Opfer, Täter, Schmerzen, Ursache und Wirkung gelangen müssen. Jede spirituelle Lehre versucht genau das, sie versucht eine neue Antwort zu formulieren.


Deine wahre Natur

Und eine Antwort auf die Frage nach dem Leiden und der Schuld  ist, dass Leid immer dann entsteht, wenn wir von unserer wahren Natur getrennt sind. Wir verrenken uns dann in unserem Leben, wir suchen Glück und Heil in Dingen, die uns nicht das geben, wonach wir suchen und uns obendrein auch noch schaden werden. Dies ist wahrscheinlich das Wichtigste, was wir im Leben erreichen können: zurückzufinden zu unserer wahren Natur. Im Hinduismus wird diese als Atman bezeichnet und ist im Wesentlichen ein Abbild des göttlichen Brahman.

Wenn du langfristig Dinge tust - sei es in deinem Job, in deiner Familie, in deiner Beziehung oder wo auch immer -, die nicht zu dir passen, dann entsteht Leid. Wenn du nicht mit der inneren Quelle verbunden bist, mit dem Segen, der in dir wohnt und dir gehört, dann entsteht Leiden und kann gar nicht anders.

Daher kann es zu Schuld führen, nicht weit genug gegangen zu sein, den Weg zu scheuen und die Mühen zu vermeiden, die dich zu deiner wahren Natur zurückbringen.


Schmerz akzeptieren

Schmerz ist ein Teil des Lebens und wird es immer sein - für jeden von uns. Es ist wichtig, dies zu akzeptieren. Du hast Schmerzen erlitten, und du wirst auch in Zukunft Schmerzen erleiden. Werde dir dessen bewusst, damit du nicht gegen deinen Schmerz ankämpfen musst und dadurch dein eigenes Leiden verursachst.

Dazu gehört auch, das Dasein so anzunehmen, wie es ist und wie es sich zeigt. Das ist ein weiterer Aspekt der Akzeptanz.


Du bist unschuldig

Aber eines möchte ich dir noch mitgeben. Es gibt eine Ebene in dir und in jedem Menschen, selbst wenn du ein Verbrechen begangen hast, ja, sogar dann, gibt es eine Ebene, wo du unschuldig bleibst, wo die pure Reinheit in dir wohnt, wo die Frische des Frühlings, der Glanz der Sonne im Sommer, die Klarheit der Mittagsstunde existieren. Hier bist du niemals schuldig und niemals Opfer, sondern immer nur du, ohne Etikettierung, Zuordnung, weitere Definitionen und Verurteilungen.

Ich habe bereits von dieser wahren Natur des Menschen, deiner wahren Natur, gesprochen. Auf dieser Ebene gibt es keine Schuld, und dort bist du ganz, heilig und unverwundbar. Es gibt keine wichtigere Aufgabe im Leben, als diesen Ort zu finden und dort zu wohnen. Wenn du dort angekommen bist, wird die Frage nach der Schuld nicht mehr so wichtig sein. Du wirst erkennen, dass alle Menschen diese Unschuld in sich tragen und dass alles viel komplexer ist, als einfache Antworten es vermitteln können.


korrigiertes Transskript


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