Kennst Du dieses Gefühl, sich verloren zu haben? Mir geht das oft so, wenn ich lange mit vielen Menschen zusammen war, wenn ich an einer Feier oder Party teilgenommen habe. Aber ich erlebe es auch nach einem sehr arbeitsreichen Tag, wenn ich lange auf dem Bildschirm geschaut habe. Dann überkommt mich das Gefühl, nicht ganz bei mir zu sein, irgendwie nur 50 % von dem zu sein, der ich bin. Oft bin ich dann ganz im Kopf vom vielen Denken und spüre meinen Körper nicht oder ich stehe sogar ganz neben mir. Das ist alles kein schönes Gefühl.
Wieso ist das so und wie finde ich mich wieder? Darüber schreibe ich heute und stelle Dir zugleich drei einfache Übungen vor.
Es ist normal sich zu verlieren
Ich glaube, dass wir vom ersten Schrei, den wir tun, uns von uns selbst distanzieren, irgendwie neben uns stehen. Es gehört zum Schicksal des Menschseins dazu, sich immer wieder zu verlieren, neben sich zu stehen und einen schwachen Kontakt zu sich selber zu haben. Und ich denke auch, dass die Vertreibung aus dem Paradies auch so gelesen werden kann, als das in Distanz-Gehen zur natürlichen Bezogenheit zu sich und zu Gott.
Und auch viele Märchen thematisieren dieses Problem der Selbstdistanzierung und des Neben-sich-Stehens. Ich denke da an das Märchen: “Von einem der auszog das Fürchten zu lernen” oder “Hans im Glück”. Im Grunde schwingt das Thema immer dann mit, wenn ein Weg oder eine Wanderung eine zentrale Position in einer Geschichte einnimmt.
Noch ein Beispiel, diesmal aus Homers Odyssee: Der Weg des Odysseus kann auch als ein Weg zu sich selbst gesehen werden. All seine Abenteuer, alle Gefahren führten ihn letztlich wieder zurück und das heißt zu sich selber.
Vielleicht sind Pilgerreisen immer so zu sehen, vielleicht ist der Weg nach Santiago des Compostela nicht nur ein Weg zu Gott, sondern auch ein Weg zu mir selbst. Und viele, die diesen Weg gehen, sich aber nicht als religiös beschreiben, erfahren es genauso. Sie erleben die Erfahrung des Weges, die Zeit, die sie haben, über sich und das eigene Leben nachzudenken als einen Prozess, der sie immer mehr zu sich selber führt.
Wie aber gelingt es uns immer wieder, dass wir uns verlieren? Wie kommt das?
Ich fange mal ganz grundlegend an. Unsere Trennung oder die Vorstellung der Trennung von unserer Ursprünglichkeit, von der Quelle allen Lebens, von Gott ist die Grundlage Wenn ich erkenne, dass ich die Quelle bin, dass ich Teil des göttlichen Bewusstseins bin und dieses Bewusstsein nicht etwas Externes ist, dann bin ich mir absolut nah, wenn nicht gar identisch.
Ereignisse die zur Entfremdung führen
Es gibt noch andere Ereignisse und Unfälle des Lebens, die dafür sorgen, dass ich mir selber fremd geworden bin.
Die Erziehung zum Beispiel ist ein solches Ereignis. Erziehung kann dafür sorgen, dass ich nicht mich spüre, sondern eher meine Eltern, dass ich nicht zu mir geführt werde und dieser Weg in meinem Leben kultiviert wird, sondern dass ich entweder gehorche oder aber zum kleinen Tyrannen werde. Bei mir sein heißt nicht, dass ich immer alles bekomme.
Traumatisierungen führen immer zu einer Selbstentfremdung. Da bei einem Trauma bestimmte Erlebnisinhalte abgekapselt und verdrängt werden, erlebe ich mich nicht mehr als ganz. Extrem ist das bei einer dissoziativen Störung, wo Persönlichkeitsanteile so abgespalten werden, dass sie ein Eigenleben haben. Wer bin ich dann noch? Dieser oder jener Teil von mir?
Autoritäre Systeme leben davon, dass andere nicht identisch mit sich sind, denn dann sind sie besser manipulierbar.
Und wie geht der Weg zurück? Welchen Pfad muss ich beschreiten, welche Pilgerreise gehen, damit ich endlich wieder bei mir ankomme und in mir beheimatet bin?
Wie finde ich wieder zu mir selbst?
Die Lösung ist so einfach, wie sie schwer ist. Das ist ja oft so. Die Lösung klingt dann so simpel, dass man denkt, na, wenn es so einfach ist, warum machen wir es dann nicht? Wenn wir dann aber beginnen, merken wir, dass das Einfache eben nicht so leicht ist.
Und so wird es auch hier so sein.
Denn der Weg zu Dir beginnt mit der Wahrnehmung Deiner selbst. Wenn Du Dich in Gänze wahrnimmst, wenn Du alle Teile, auch alle Teile Deines Körpers wahrnimmst, dann bist Du im Grunde bei Dir. Und wenn Du dann auch noch im göttlichen Seinsgrund verankert bist, dann spürst Du diese Kraft in Dir, die nur entsteht, wenn man bei sich und bei Gott ist.
Zusätzlich musst Du spüren und wissen, was Du wirklich willst. Das ist ja gerade das Fatale und daran erkenne ich, wie nah ich mir selber gekommen bin: Wenn ich weiß, was ich will und nicht will, wenn ich weiß, was meine Wünsche sind, was ich mag und was ich nicht mag. Denn das zu wissen, das kann ich nicht erdenken, sondern nur erspüren. Und da kommt der Körper mit ins Spiel. Im Körper zu spüren, was mich anzieht und was mich abstößt, ist ein ganz wichtiger erster Schritt.
Und damit beginnt auch die Innensteuerung. Viele lassen sich ja bereitwillig von außen steuern. Werbung, Freunde, Familie, der Chef/die Chefin, was auch immer auf Dich einströmt, es wird aufgenommen und Du handelst vielleicht danach. Aber bei sich sein heißt immer, aus dem Inneren gesteuert zu sein.
Gott ist in mir
Noch etwas, was die Außensteuerung angeht. Es ist deshalb auch so wichtig, Gott als etwas im Innersten zu erfahren, als etwas, das mir nicht fremd ist, das mit mir identisch ist. Denn wenn ich Gott ausschließlich als ein Gegenüber erfahre, dann besteht die Gefahr, dass Gott zu einem Teil der Außensteuerung wird und mich damit in die Entfremdung führt. Und Entfremdung heißt immer, Aufgabe von Freiheit.
Nein, Gott ist in mir, in meinen Genen und meinen Zellen und er ist zugleich darüber hinaus, er geht nicht in mir auf. Damit und nur so kann ich Gott als Gegenüber ansehen.
Niemals aber strebt das göttliche Bewusstsein danach, mich von mir selbst zu entfremden.
Ich möchte Dir jetzt drei kleine Übungen vorstellen, die Du machen kannst, um wieder bei Dir selber anzukommen.
Übung 1
Beginne damit, dass Du wieder Deinen Körper spürst. Und ich meine damit alle Teile des Körpers, nicht nur den Kopf oder Oberkörper, nicht nur die Vorderseite. Gehe jedes einzelne Glied, jedes einzelne Teil Deines Körpers durch und nimm es bewusst wahr. Über den Körper können wir sehr gut bei uns ankommen und diese Selbstbeheimatung üben.
Übung 2
Wenn Entscheidungen anstehen, dann ist das wieder eine schöne Möglichkeit, um einzuüben, bei Dir anzukommen. Nimm am besten einfache Entscheidungen. Was will ich heute essen? Dann frage nacheinander, was Dein Verstand sagt, was Dein Körper sagt und was Dein Inneres sagt. Wenn sie übereinstimmen, dann ist alles klar. Wenn es unterschiedliche Intentionen gibt, dann musst Du eine bewusste Entscheidung treffen oder einen Kompromiss finden. Entscheidend aber ist es, dass Du spürst, was Du willst und auch spürst, woher vielleicht unklare Gefühle kommen.
Übung 3:
Und dann ein Letztes noch. Wenn jede Emotion und jedes Gefühl Dich mitnimmt und Dich einnimmt, dann kannst Du Dich nicht selber spüren. Es braucht also eine Fähigkeit, Gefühle zwar wahrzunehmen, aber sie nicht Dich bestimmen zu lassen. Daher solltest Du immer eine gewisse Distanz zu den Gefühlen aufbauen können. Stelle sie einfach etwas weiter von Dir weg, stelle Dir vor, Dein Inneres ist ein Theaterstück und Du sitzt im Zuschauerraum. Solche Bilder können helfen, diese Distanz herzustellen.
Mit diesen Übungen kannst Du einen Anfang setzen für den Weg zurück zu Dir selbst.
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