Wie kannst Du Wut besser regulieren?

20. September 2022

Jede und jeder hat ja so seine eigene Konfiguration und seine Vorlieben. Bei mir ist es zum Beispiel so, dass ich auf bestimmte Situationen oft mit Wut reagiere. Ich bin jemand, der schnell wütend werden kann, vor allem, wenn ich Wut als Ersatzgefühl brauche. Ich setze Wut ein, wenn ich mich zum Beispiel machtlos fühle, wenn andere über mich bestimmen oder ich meine, dass andere über mich bestimmen. Dann kann ich sehr schnell sehr wütend werden.

Ich kann auch wütend werden, wenn ich mich nicht richtig beteiligt fühle. Das hat auch etwas mit Ohnmacht zu tun, denn dann kann ich keinen Einfluss auf den Verlauf nehmen, ich kann nicht mitbestimmen, sondern nur noch das hinnehmen, was man mir vorgibt. Dann kann ich richtig schön wütend werden.


Traurigkeit wird mehr geschätzt

Du siehst, auch ich habe manchmal viel Wut in mir und kann sehr wütend sein. Das ist meistens keine so akzeptierte Form und kein Ersatzgefühl, das geschätzt wird. Mehr geschätzt ist Traurigkeit zum Beispiel. Dann kommen alle und wollen trösten oder wollen vermitteln und manche geben dann schnell nach, wenn sie jemandem gegenüber sitzen, der weint.

Bei Wut ist das anders, dann geht das Gegenüber in den Angriff über und es kommt zu einem Streit und Eskalation. 

Als Wütender wird man nicht getröstet und das Gegenüber gibt auch in der Regel nicht nach.

Dafür hat man vielleicht den Vorteil, dass man von manchen Dingen verschont bleibt. 

Wut und Aggression sind Empfindungen, die in unserer Kultur stark negativ konnotiert sind. Man soll nicht wütend und man soll nicht aggressiv sein, das ist nicht gut. Weinen und Traurig Sein sind dagegen akzeptiert und setzen unseren Helferinstinkt in Gang.

Die meisten würden vermutlich sagen, dass man auch mal traurig sein darf, aber wer würde sagen, dass man lernen muss, aggressiv zu sein?


Ersatzgefühle

Dabei ist Wut, wie auch Traurigkeit, oft ein Ersatzgefühl. Wir setzen Ersatzgefühle ein, um ein anderes Gefühl nicht fühlen zu müssen. Das kann der Fall sein, weil das eigentliche Gefühl noch unangenehmer ist oder im bisherigen Leben nicht zum Ziel führte.

Wenn man meine Freiheit einschränkt, dann spüre ich zunächst keine Wut, ich spüre Enge und Angst. Das sind meine eigentlichen Gefühle, die sich dann hinter einer Wut verstecken oder vielleicht auch schützen.

Meistens sind Ersatzgefühle Gefühle, die depressive Gefühle verdecken sollen. Für mich ist Angst auch ein depressives Gefühl. Depressive Gefühle sind Gefühle, die mich verschließen, die dafür sorgen, dass ich mich verkrieche, mich verstecke. Die meisten Männer mögen solche Gefühle nicht, sie wollen das Heft in der Hand behalten, wollen aktiv sein, bestimmen und Einfluss nehmen. Daher wählen viele Männer anstatt Angst, Wut und Aggression. 

Viele Frauen wählen stattdessen Traurigkeit und bleiben daher eher in depressiven Gefühlen. Vermutlich haben viele Frauen die Erfahrung gemacht, dass ihnen dann mehr geholfen wird. Und es ist natürlich in unserer Gesellschaft noch weit weniger akzeptiert, wenn Frauen aggressiv sind.

Eine Freundin von mir weint, wenn sie wütend ist. Etwas, das mir völlig fremd ist. Ich hatte das zunächst völlig falsch eingeschätzt und musste dann erkennen, dass hier ein Ersatzgefühl über das andere gestülpt worden ist.

Sowas geht natürlich auch!


Ersatzgefühle können hilfreich sein

Es ist übrigens nicht grundlegend falsch, ein Ersatzgefühl zu nehmen. In einer Situation kann es durchaus sein, dass man mit Wut und Aggression besser fährt als mit Angst und Tränen. Wichtig ist lediglich zu wissen, worum es eigentlich geht. Und in den Partnerschaften findet man einen gemeinsamen Weg nicht über das Ersatzgefühl, sondern über das Primärgefühl, über das Gefühl, worum es eigentlich geht.

Wenn Du Deinen Partner, Deine Partnerin oder Freund, Freundin in seiner Angst ansprichst, obwohl er wütend ist, dann kann es Dir gelingen, auf eine viel tiefere Ebene zu kommen, als bisher.

Aber schauen wir weiter auf die Wut. Denn Wut ist wichtig, um sich wieder Raum zu schaffen, der einem weggenommen wurde. Klaut man dem Kind das Spielzeug, dann weint es entweder oder wird wütend und will es sich zurückholen.


Wut gegen das Verbrechen

Wir setzen Wut auch ein, wenn es um Bestrafung geht. Das kann man in der ganzen Missbrauchsfrage sehen. Manche reagieren mit sehr viel Wut und das ist für alle verständlich, dass dem so ist. Diese Wut soll zu einer gehörigen Strafe führen. Aber im Hintergrund stehen noch ganz andere Gefühle, die die Meisten gar nicht fühlen wollen, die so schwer und groß sind, dass man Angst hat, davon verschluckt zu werden.

Wir werden übrigens auch wütend, wenn wir etwas nicht verstehen. Das nennt man Ambiguitätsintoleranz. Ein klassisches Beispiel ist die Aggression gegen Kunst, gegen Kunstwerke, die abstrakt sind oder etwas sehr stark verfremden. Dann entsteht eine Mehrdeutigkeit, die viele Menschen nicht ertragen können. Sie verstehen nicht, was sie da sehen, sie können keine Muster erkennen und keine Bedeutung. In einer solchen Situation kann Wut entstehen. Das drückt sich dann vielleicht so aus: Das kann doch jeder! Das soll Kunst sein? Das kann ich auch!

Das wird natürlich nicht als Ausdruck einer Einsicht und eines kritischen Nachfragens gesagt oder gedacht, sondern mit einem aggressiven Grundton vorgebracht.

Um es zusammenzufassen. Wut kann hilfreich und notwendig sein und es gibt auch Wut als Primärgefühl. Meistens aber ist Wut ein Ersatzgefühl. Und wenn Du spürst, dass Du mit Deiner Wut nicht weiterkommst, wenn Du an Deiner Wut arbeiten möchtest, dann möchte ich Dir jetzt zeigen, was Du tun kannst.

Es geht dabei darum, die Wut zu regulieren und nicht sie abzuschneiden. Denn, wie gesagt, manchmal braucht man Wut und manchmal kommt man nur mit Wut weiter.


Wie lautet das Primärgefühl?

Das Wichtigste dabei ist es für mich herauszufinden, was denn gerade mein Primärgefühl ist. Das ist der Schlüssel dazu, zu entscheiden, wie Du anschließend reagieren willst, was eine adäquate Form der Reaktion ist, die Dir hilft.

Nimm ein Beispiel aus Deinem Leben, wo Du wütend warst. Möglichst ein Beispiel, das noch nicht zu lange zurückliegt. Womit begann alles bei Dir? Erforsche Angst und Traurigkeit, erforsche das Gefühl der Enge und Ohnmacht, des Verrats und der Missachtung. Etwas davon wird am Anfang gewesen sein oder eine Mischung daraus. 

Ich weiß, dass das nicht leicht ist und etwas Mühe braucht. Aber wenn Du beharrlich dran bleibst, dann wirst Du irgendwann Deine Mechanismen entdecken, wie Du “funktionierst”. Du wirst erkennen, warum Du immer wieder wütend wirst und um welches Gefühl es eigentlich geht.

Denn wenn Du zum eigentlichen Gefühl kommst, dann wirst Du spüren, wie etwas ins Fließen gerät – manchmal ganz wörtlich durch Tränen. Tränen, die nicht ein Ersatz für etwas sind, sondern Ausdruck eines inneren Zustandes, so wie er ist.

Und dann kannst Du Dich erklären, kannst Dein Anliegen formulieren, kannst mitteilen, was ein Verhalten oder ein Satz in Dir ausgelöst haben. Ganz echt, ganz authentisch und ohne Vorwurf.

Oder Du weißt dann, wo Du aufpassen musst, welche Situationen für Dich besonders bedrängend sind. Auch das kann hilfreich sein.


Schreib eine Email!

Und schließlich möchte ich Dir noch zeigen, wie ich selber manchmal mit meiner Wut umgehe. Ich schreibe dann meistens eine Mail, in der ich alles reinschreibe, was es aus meiner Wut heraus zu sagen gilt. Ich halte mich mit nichts zurück. Ich lasse meine Wut vollkommen raus und lege alles Artige und Nette ab.

Wenn ich das getan habe, geht es mir meistens besser und ich gewinne Raum, die Dinge in Ruhe zu betrachten. Dann lasse ich mir meistens Zeit und reagiere einen Tag später, nachdem ich darüber geschlafen habe.

Nur eines darfst Du natürlich nicht tun: Die Mail abschicken. Ich lösche sie meistens und bin froh, dass ich den Text niemandem zum Lesen gegeben habe.

korrigiertes Transskript


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