Spiritualität kann tatsächlich gefährlich sein und daher werde ich Dir heute vier große Themen und Bereiche vorstellen, wo ich Gefahren sehe. So kannst Du bei Dir selbst und bei anderen schneller erkennen, wenn etwas in eine falsche Richtung geht.
Fangen wir direkt an:
Spiritueller Materialismus
Die erste große Gefahr nenne ich spirituellen Materialismus. Materialismus ist ja eine Lehre, die davon ausgeht, dass alles letztlich auf physische Prozesse und Substanzen zurückzuführen ist. Im Materialismus ist kein Platz für Gott oder für die Transzendenz. Alles nur Verschaltungen unseres Gehirns, mehr nicht.
In der Spiritualität ist daher eigentlich von Materialismus nicht viel zu finden. Und doch schleicht es sich immer wieder ein.
Und zwar immer dann, wenn es darum geht, Spiritualität zu quantifizieren. Sehr oft kommt das bei der Meditation vor. Ich selber meditiere 20 Minuten, andere 25 und es gibt Schulen, die meditieren 45 Minuten als eine einzelne Session.
Und dann kann man hören, dass gesagt wird: 20 Minuten ist viel zu wenig, da passiert nichts, es müssen 25 Minuten sein, sonst braucht man erst gar nicht anzufangen. Und wieder andere sagen dann, 25 Minuten Meditation ist eine verlorene Zeit. Nur wer 45 Minuten meditiert, der meditiert richtig und wird erleuchtet.
Gottesdienste, die nur 45 Minuten dauern, sind für Loser, erst wenn man mindestens zwei Stunden in der Kirche gesessen hat, ist ein Gottesdienst wirklich intensiv und kann sich sehen lassen.
Das ist Materialismus, man quantifiziert etwas, das sich nicht in Zahlen und auch nicht in Zeit ausdrücken lässt. Wer sagt denn, dass in 45 Minuten mehr passiert, als in 20 Minuten? Es geht hier um das Prinzip: Viel hilft viel. Aber das ist natürlich Quatsch. Man kann sein ganzes Leben lang jeden Tag 45 Minuten meditiert haben und es ist nichts passiert.
Dabei spielt Zeit natürlich durchaus eine Rolle. Eine Minute Meditation wird auf Dauer vermutlich nicht reichen, um wirklich in eine Tiefe zu kommen. Da wir meistens erst die innere Unruhe dafür ablegen müssen und das braucht Zeit. Und mal an einem Wochenende mehrere Stunden zu meditieren kann wirklich helfen, tiefer in die Erfahrung zu kommen. Aber es ist nicht eine Frage der Minuten und meiner Armbanduhr, sondern es ist eine Frage der inneren Haltung.
Und es geht noch weiter, denn der spirituelle Materialismus zeigt sich auch in der Liebe zu äußeren Zeichen. Wenn das Gewand, die kahl geschorenen Schädel und die Gebetsbänder zu wichtig werden, dann geht es nicht mehr um Spiritualität, sondern um das Ego. Nicht, dass das alles nicht sein darf, aber es ist nur Beiwerk, mehr nicht, es ist nicht wirklich entscheidend oder wichtig, aber es darf dennoch seinen Platz haben.
Beim spirituellen Materialismus geht es um die Überbrückung von Unsicherheiten. Und dort liegt dann auch der Weg zur Heilung. Es geht darum, Unsicherheit im Leben und in der Spiritualität zuzulassen und zu akzeptieren. Es gibt nur an wenigen Stellen ein wirkliches Falsch und Richtig und selbst dann kann es noch sein, dass das Falsche sich im Nachhinein als Segen heraus stellt. Du wirst nie den richtigen Guru finden und nie die richtige Methode der Meditation, wenn Du nicht bereit bist anzuerkennen, dass es keine Sicherheit gibt. Lerne damit zu leben.
Spirituelle Hysterie
Meinen nächsten Punkt überschreibe ich mit dem Begriff spirituelle Hysterie. Das ist eine Haltung, sich nicht festzulegen, immer wieder Neues zu suchen, immer wieder Schönes haben zu wollen und sich die Welt rosarot zu meditieren. Ein berühmtes Beispiel dafür ist das spirituelle Bypassing. Das ist eine Haltung, die dafür sorgt, dass man negative und dunkle Seiten überspielt und sich alles wunderschön sanft macht. Alles, was ein ungutes Gefühl vermittelt, wird schnell verschönert und so übergangen. Man lässt sich nicht auf das Leben selber ein, sondern auf das, was man gerne als Leben hätte. In vielen Witzen und Anekdoten über spirituelle Menschen wird auf das Bypassing eingegangen.
Auch das Gerede darüber, dass alles nur Illusion ist und nichts wirklich existiert, kann spirituelles Bypassing sein. Es wertet Erfahrungen von Schmerz und Dunkelheit einfach ab, negiert es und meint dann, es wäre weg. Aber dem ist nicht so.
Hinter der spirituellen Hysterie steckt die Angst vor Festlegung, vor der Dunkelheit. Und hier liegt dann auch der Weg der Heilung: Zu lernen, mit dem Schatten zu leben und dass der Schatten ein wichtiger Weg zur spirituellen Erfahrung ist. Es gibt keine spirituelle, tiefe Erfahrung, die nichts mit dem Schatten zu tun hat. Oft werden wir erst sehr tief durch unseren Schatten geführt, bevor wir zu einer vertieften Erfahrung kommen.
Eine Heilung kann beginnen, wenn ich mich verbindlich auf etwas festlege. Zum Beispiel, indem ich mir eine Meisterin suche oder Mitglied einer Sangha oder einer anderen Gruppe werde. Das sind Orte, wo diese Seite geheilt werden kann.
Dogmatismus
Der dritte Aspekt, den ich heute mit Dir teilen möchte, ist der Dogmatismus. Und diesen Dogmatismus, den verbinden viele mit Christentum und der Katholischen Kirche. Gewiss nicht zu Unrecht, aber glaube ja nicht, dass es diese Gefahr nicht auch in anderen Religionen und spirituellen Gruppen gibt. Eben hatte ich ja bereits davon gesprochen, dass es spirituelle Richtungen gibt, die sagen, dass alles nur Illusion ist – das kann man so sehen und ließe sich auch philosophisch herleiten. Doch das wird oft wie ein Dogma verkündet und damit alle, die eine andere Meinung haben, zum Schweigen gebracht.
Es gibt auch ein Dogma der Form. Dann muss man so und nur so meditieren und nur in dieser Körperhaltung und immer 25 Minuten und keine Sekunde länger oder kürzer.
Unter Dogmatismus fällt für mich auch ein wortwörtliches Verstehen von spirituellen Schriften. So wie es dort steht, so ist es gemeint und nur so. Das ist die Wahrheit und in diesen Worten ist sie ein für allemal ausgedrückt und alle, die etwas anderes behaupten, irren sich, sind Sünder, abgewichen vom Weg.
Doch das Wort Gottes lässt sich in keiner Sprache letztgültig ausdrücken. Sprache selber ist ja schon ein Kompromiss für die Botschaft Gottes, Grammatik ist schon ein Kompromiss und wenn man so will, eine “Verunreinigung” von Gottes Wort. Das gehört dazu.
Und wer die Bibel in der gleichen Haltung lesen will wie die Gebrauchsanweisung für die Spülmaschine, wird nie in die Liebe der göttlichen Poesie eintauchen können.
Es geht beim Dogmatismus darum zu lernen, dass wir es nicht endgültig wissen können, wir wissen es nicht ein für allemal. Mit dieser Unsicherheit müssen wir umgehen und mir scheint auch, dass dahinter ein göttliches Konzept steht – nicht nur eine gegebene Notwendigkeit. Offene Situationen, die Dogmatismus unbedingt vermeiden möchten, sind es, die uns zu inneren Suchprozessen führen, zu eigenen Antworten und zu einem eigenen Weg.
Den Mut, diesen Weg zu gehen, den brauchen wir und der führt uns immer weg vom Dogmatismus. Übernimm Verantwortung für Deinen Glauben und Deine Spiritualität – glaube nicht einfach, was Du immer schon geglaubt hast und was man Dir vorsetzt. Prüfe und entscheide. Und erlaube Dir auch einzusehen, später vielleicht, dass Du Dich womöglich geirrt hast. Das kann passieren, warum auch nicht.
Dualismus
Und nun zum letzten großen Punkt, den ich mit Dir teilen möchte. Es geht um den Dualismus. Das ist eine Vorstellung von dieser Welt. Und diese Vorstellung geht davon aus, dass es immer zwei Seiten gibt. Es gibt Gut und Böse, Licht und Schatten. Das hört sich ja erst einmal logisch an und es gibt daran nichts auszusetzen. Aber der Dualismus sagt, dass es kein sowohl als auch, sondern nur ein entweder oder gibt. Entweder bist du ein guter Mensch oder ein Böser. Dass man irgendwie beides sein kann und vermutlich alle beides in unterschiedlicher Mischung sind, davon geht der Dualismus nicht aus. Du musst Dich entscheiden, Du musst den richtigen Weg wählen, wählst Du den falschen, dann ist alles verloren.
Der Dualismus trennt letztlich und das zeigt sich auch darin, dass er die Trennung zwischen Subjekt und Objekt beibehält und verstärkt. In unserer Sprache ist diese Trennung vorgegeben und notwendig, aber wir müssen im spirituellen Leben diese Trennung überwinden, bzw. einsehen und erkennen, dass es nur ein sprachliches Konstrukt ist und nichts mit der Wahrheit zu tun hat.
Wir sind nämlich immer beides.
Und genau hier liegt dann auch der Weg der Heilung für den Dualismus. Es geht darum zu lernen, dass es beides geben kann, dass man Gegensätze in sich vereint und dass es niemanden gibt, der nur gut oder nur böse ist. Den Bösen auch gute Seiten zuzugestehen und den ach so guten auch böse Seiten, das ist eine wichtige Übung für alle, die den eigenen Dualismus überwinden wollen.
Gott selbst ist ja ein Wesen, das Gegensätze in sich vereinigt. Coincidentia Oppositorum nannte das Nikolaus von Kues den Zusammenfall der Gegensätze. Damit ist nicht gemeint, dass Gott auch böse Seiten hat, das geht meines Erachtens gar nicht, sondern, dass er jegliche Gegensätzlichkeit wie groß und klein und jegliche Eigenschaft in sich vereinigt und in sich trägt.
Lerne also die Dinge wieder zusammen zu sehen und die Gegensätze in Dir parallel zu spüren, dann kannst Du den eigenen Dualismus überwinden.
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