Die 5 Mythen des spirituellen Lebens

21. Oktober 2023

Es ist zum Fremdschämen, was ich auf YouTube und in einigen Podcasts sehen und hören muss. Ich erstelle nicht nur selbst Videos, sondern schaue mir natürlich auch viele an. Doch bei vielem, was ich erlebe, muss ich den Kopf schütteln. Die Mahnungen, Vorschläge und die große Lehre, die vermittelt werden sollen, sind oft schlicht, konstruiert oder so plakativ, dass ich mich frage, wer so etwas glauben soll und kann. Aber offensichtlich tun es viele, denn solche Videos werden oft angeschaut.

Immer wieder stoße ich auf bestimmte Annahmen, die entweder direkt oder indirekt vermittelt werden, und die ich nicht teilen kann. Sie setzen die Zuschauer letztendlich unter Druck. Bei vielen haben sich bestimmte Glaubenssätze gebildet und manifestiert, die dem spirituellen Leben nicht helfen und unseren Weg eher belasten, anstatt ihn zu unterstützen.

Heute möchte ich dir fünf typische Mythen des spirituellen Lebens aufzeigen und entlarven. Fangen wir direkt an.


Mythos Nummer 1: Um spirituell zu sein, muss man meditieren. 

Ich selbst schätze Meditation und praktiziere sie seit vielen Jahren. Ich spüre, wie gut sie mir tut. 20 Minuten in Stille sitzen, alles loslassen und versuchen, nichts auszuschließen – eine großartige Übung, von der ich auf meinem Weg profitiere. Man könnte meinen, dass ich nun jedem dazu rate, es mir gleichzutun. Empfehlen kann ich es wirklich, doch es ist nicht der einzige gangbare Weg. Meditation ist eine Möglichkeit, es gibt auch andere, die unterstützend wirken können. Nicht jeder meditiert gerne, und Menschen mit starken Traumata müssen ohnehin klären, ob dies für sie geeignet ist. Ich kenne Menschen, die auch ohne eine solche Übung sehr tief spirituell erleben und bereits einen langen Weg zurückgelegt haben. Meditation ist keineswegs zwingend erforderlich. Was jedoch meiner Meinung nach notwendig ist, ist eine regelmäßige spirituelle Übung. Besonders wenn du noch am Anfang stehst oder den Eindruck hast, nicht voranzukommen, ist eine kontinuierliche Übung von großer Bedeutung. Diese Übung kann das regelmäßige Lesen spiritueller Bücher, das Gebet, die Teilnahme an einem Gottesdienst oder auch ein Spaziergang in der Natur sein. Die Art der Übung macht nicht deren spirituellen Wert aus, sondern die Intention, die dahinter steht. Du kannst beispielsweise in den Wald gehen, um frische Luft zu schnappen oder als spirituelle Praxis. Die beiden Spaziergänge werden grundverschieden sein. Suche dir also deine Übung. Und noch etwas: Eine solche Übung darf Freude bereiten, schön und erfüllend sein. Übungen, bei denen die Stille eine wichtige Rolle spielt, sind besonders hilfreich.


Kommen wir zu Mythos Nummer 2: Im spirituellen Leben muss man auf Erfolg verzichten. 

Früher hieß es in Predigten oft: "Erfolg ist keiner der Namen Gottes". Damit sollte verdeutlicht werden, dass wir im spirituellen Leben nicht auf Erfolg abzielen sollten. Diese Ansicht ist sicherlich nicht vollkommen falsch. Ich erinnere mich daran, dass ich nach meinen ersten Erfahrungen mit Zen-Buddhismus und der Zen-Meditation, dachte, dass man bereit sein muss, jahrelang ohne jeglichen Ertrag zu meditieren. Ich stimme dem zu, wenn man alles nur unter dem Gesichtspunkt der Optimierung betrachtet. Eine Fixierung auf Erfolg kann tatsächlich den eigentlichen Erfolg verhindern. Das bedeutet, dass du beispielsweise die Meditation abbrichst, wenn du nach zwei oder drei Wochen keinen Fortschritt bemerkst. Solche Durststrecken gehören jedoch dazu, und erst wenn du bereit bist, sie zu durchstehen, erreichst du eine tiefere spirituelle Ebene. Das Instrumentalisieren von Spiritualität ist weit verbreitet. Man ist dann spirituell, um besser arbeiten zu können, gesünder zu sein, besser schlafen zu können, und so weiter. Dies sind zwar verständliche Bedürfnisse, aber ein solcher Ansatz verhindert in der Regel eine wirkliche spirituelle Tiefe. Du solltest spirituell sein, weil du es sein möchtest oder es gar nicht anders kannst. So geht es mir. Ebenso sind wir nicht mit jemandem befreundet, weil es uns nützt, sondern weil es einfach so ist, weil wir Freunde sind. Du solltest also spirituell sein, nicht weil es dir nützt, sondern weil es einen Ausdruck dessen darstellt, was du innerlich spürst. Dennoch darf Meditation oder Gebet dir nützen, und es sollte auch so sein, ansonsten wäre es sinnlos. Der Dalai Lama meditiert beispielsweise gewiss nicht ohne Erfolg, und jeder Zen-Meister, der vielleicht Erfolg ablehnt, hat dennoch einen Erfolg zu verbuchen, nämlich Erleuchtung. Was kannst du als "Erfolg" im spirituellen Leben verbuchen? Es beginnt damit, dass du vielleicht ruhiger wirst, weniger rastlos. Du spürst eine größere Gelassenheit in dir. Du kannst vielleicht besser mit negativen Gefühlen umgehen und sie besser regulieren. Dies kann eine Frucht des spirituellen Lebens sein. Durch deine Spiritualität fühlst du dich stärker mit anderen und der Welt verbunden und beginnst, das Leben besser zu verstehen. All das kann geschehen, wenn du spirituell lebst. Doch das ist nicht das eigentliche Ziel des spirituellen Lebens, sondern ein zusätzlicher Nutzen, der sich einstellt. Er kann jedoch im Leben von unschätzbarem Wert sein. Daher empfehle ich dir, durchaus etwas von deiner Spiritualität zu erwarten, aber nicht abhängig vom Erfolg zu sein. Sei vielmehr bereit, Durststrecken zu durchleben, in denen all deine Bemühungen ergebnislos zu sein scheinen. Diese Zeiten sind von unschätzbarem Wert.


Mythos Nummer 3: Wer mehr meditiert oder betet, kommt auch schneller voran. 

Ein echter Klassiker unter den Mythen, der vielen Menschen viel Druck macht. Ich erwähne ihn nicht umsonst direkt nach dem Mythos vom Erfolg, weil beides oft miteinander verknüpft ist. Denn was tut man, wenn man spürt, dass es nicht funktioniert, dass die stille Stunde langweilig wird, man immer noch wütend wird, die Angst nicht verschwindet und man immer noch Fleisch isst, weil man einfach nicht darauf verzichten kann? Die übliche Vorgehensweise ist dann, mehr zu tun. Das kann bedeuten, noch mehr zu meditieren – 40 Minuten statt 20, an sieben Tagen in der Woche und nicht nur an drei, morgens und abends, nicht nur vor dem Schlafengehen. Man liest noch mehr Bücher, zwingt sich immer freundlich zu sein, verzichtet auf abendliche Unterhaltung und das Treffen mit Freunden und so weiter. So wird das spirituelle Leben schnell zu einer großen Zwangsanstrengung, die vor allem Druck erzeugt. Immer hört man in der Ferne das Echo: "Es reicht noch nicht, du musst mehr tun, du musst dein ganzes Leben sofort ändern, du musst immer nett sein und allen helfen." Am Ende verliert man die Lust und ist völlig erschöpft. Doch auf diese Weise funktioniert es nicht. Viel hilft im spirituellen Leben nicht viel. Es ist sicherlich wahr, dass man eine gewisse Zeit braucht und somit eine gewisse Anzahl von Minuten, um in der Meditation Fortschritte zu erzielen. Auch das Gebet erfordert eine gewisse Dauer, um Früchte zu tragen. Aber das bedeutet nicht, dass du nur noch beten oder meditieren sollst. Es geht mehr um die Qualität als um die Quantität deiner Übungen. Eine kleine Übung, bewusst und in Stille durchgeführt, kann nur 5 Minuten dauern und dennoch erheblich zu deinem spirituellen Fortschritt beitragen. Ein Meditationsmarathon von 12 x 25 Minuten kann hingegen langweilig und frustrierend sein. Es ist besser, wenn du eine Übung wählst, die nicht viel Zeit in Anspruch nimmt, die du jedoch nahezu immer und bewusst ausüben kannst, anstatt ein umfangreiches Programm zu planen. Mein Vorschlag ist beispielsweise, für Menschen, die mit der Meditation beginnen wollen (und das gilt für alle Übungen), mit einem Zeitraum von nur 2 Minuten zu starten. Jeder Meditationslehrer wird dir sagen, dass dies nicht ausreicht, um wirklich in die Tiefe zu gehen, und das ist zweifellos richtig. Aber wenn du gleich mit 20 oder 25 Minuten beginnst, ist die Gefahr viel größer, dass du aufgibst und dich überforderst. Es ist also besser, mit 2 Minuten zu beginnen und dich dann zu steigern. Spüre, wann genug für dich ist, und übe in diesem Zeitrahmen.


Mythos Nummer 4: Wer erleuchtet ist, hat keine negativen Gefühle mehr. 

Das wäre sicherlich schön. Du meditierst brav jeden Morgen und Abend, nimmst an Retreats und Exerzitien teil, liest fleißig Bücher, und irgendwann hast du es geschafft. All deine Ängste, Sorgen, Wut und Aggression sind verschwunden, alles, was du schon immer loswerden wolltest, ist tatsächlich weg. Dann siehst du diese spirituellen Meister stoisch auf ihrem Meditationskissen sitzen. Ihnen kann niemand etwas anhaben, sie kennen keine Angst mehr, sie können das Wort Sorge nicht einmal buchstabieren. So sollte es in meinem Leben sein, ich möchte so sein, endlich frei von all diesem Ärger. Ich möchte durch das Leben gehen, und nichts kann mich mehr berühren. Alles geschieht, und es berührt mich nicht. Natürlich bleibt Mitgefühl bestehen, aber innerlich bleibe ich völlig ruhig. So sollte es sein in meinem Leben. 

Das verstehe ich sehr gut, aber es wird nicht funktionieren. Jesus hatte Angst, Mutter Teresa hatte Sorgen und Buddha hatte Schmerzen. Auch der großartige Zen-Lehrer kennt Wut. Der Unterschied liegt nicht in den Emotionen, die wir empfinden, sondern in unserer Fähigkeit, damit umzugehen. Das macht den erleuchteten Meister oder die Meditationslehrerin aus. Darum geht es. Es geht nicht darum, keine Angst mehr zu empfinden. Es geht darum, sich nicht länger von der Angst beherrschen zu lassen und auf eine konstruktive Weise mit ihr umzugehen. Wenn du hoffst, dass du durch Spiritualität all deine Ängste und Sorgen loswerden kannst, wirst du enttäuscht sein. Wenn du jedoch daran interessiert bist, einen besseren Umgang mit deinen Gefühlen zu erlernen, dann bist du auf dem richtigen Weg. Denn darum geht es allein. Ein erleuchteter Mensch heißt jedes Gefühl willkommen, aber kein Gefühl beherrscht ihn. Daher empfehle ich dir dringend, daran zu arbeiten, wie du konstruktiver mit deinen Gefühlen umgehen kannst.

Solltest du an diesem Thema Interesse haben, dann lass es mich gerne in den Kommentaren wissen.


Und schließlich zu Mythos Nummer 5: Du brauchst einen Guru oder spirituellen Lehrer. 

Seit vielen Jahren habe ich keinen spirituellen Begleiter mehr, aber zu Beginn meines Weges hatte ich einen sehr kompetenten Mann an meiner Seite, der mir half, die Herausforderungen meines Lebens zu meistern. Das schätzte ich sehr. Am Anfang deines Weges kann es sehr wichtig sein, einen solchen Mentor zu haben. Doch es kommt eine Zeit, in der du diese Person loslassen musst. Dann musst du selbständig weitergehen auf einem Pfad, auf dem dir niemand mehr kontinuierliche Anleitung geben kann. Es gibt möglicherweise Menschen, die dich weiterhin inspirieren oder einige Hinweise geben können, jedoch nur für bestimmte Abschnitte oder Fragen. So beziehe ich Inspiration aus verschiedenen Traditionen, Meistern und Meisterinnen sowie letztendlich aus meiner eigenen inneren Erfahrung. Es ist auch hilfreich, Bücher zu lesen oder mit Menschen zu sprechen, die durch ihre eigenen Erfahrungen meine eigenen bestätigen. Doch irgendwann gibt es keinen Guru oder Meister mehr und du musst selbst die Verantwortung für dein spirituelles  Leben übernehmen. Am Anfang kann es sinnvoll sein, für verschiedene Lebensabschnitte einen Ratgeber zu haben, je nach deiner inneren Verfassung und Verstrickung. Mir ist es jedoch wichtig zu betonen, dass ein Guru oder eine Meisterin nicht immer notwendig sind und manchmal sogar schaden können, da es viele "Wölfe im Schafspelz" gibt.


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