Manchmal ist das Helfen das Problem

10. Mai 2022

Helfen kann schaden. Ich weiß, das klingt jetzt verrückt, weil man doch meint, helfen ist immer gut. “Ich will Dir doch nur helfen”, sagen wir schnell. Aber ich möchte Dir hier deutlich machen, dass manchmal das Helfen das Problem ist. Dann werden wir auf die Tiefendimension des Helfens schauen, dann kommen wir zu ganz anderen Ergebnissen und zu diesem Gedankengang möchte ich Dich einladen, um Dein Helfen und Deine Unterstützung neu zu sehen und warum es manchmal gut sein kann, nicht zu helfen.

Es kann sein, dass das, was ich Dir hier sage, Dich sehr irritieren wird oder Du auch einen Widerstand spüren wirst. Denn wir alle tragen eine Vorstellung vom Helfen in uns, die zu hinterfragen bei vielen eine Abwehr verursacht. Denn Helfen hat für uns immer etwas Gutes. Wenn jemand leidet, dann müssen wir helfen. “Da muss doch jemand etwas tun.” Und dann beginnen wir zu arbeiten. 

Wir beginnen zu organisieren, sprechen mit dem Betroffenen, sprechen mit Angehörigen, versuchen etwas zu kaufen, zu erledigen oder was auch immer und das geschieht natürlich jeden Tag gerade in dieser Zeit, wo so viele Flüchtlinge aus der Ukraine aber auch aus anderen Ländern zu uns kommen. Wir beginnen zu helfen und die ganze Maschinerie des Helfens wird in Gang gesetzt. Aber weißt Du was, manchmal ist eben das Helfen genau das Falsche.

Gerade im christlichen Kontext spielt das Helfen natürlich eine sehr große Rolle. Der barmherzige Samariter aus dem Neuen Testament ist unser Urbild des Helfenden schlechthin.

Und so haben wir große Werke geschaffen wie die Caritas oder das Diakonische Werk, haben Gruppen, mit denen wir uns engagieren und versuchen sozial Benachteiligte zu unterstützen, Kranke zu besuchen, Flüchtlingen eine Wohnung zu vermitteln. Es gibt Beratungsstellen, Krankenhäuser, Heime und vieles andere mehr. Es gibt eine ganze Maschinerie von sozialen Einrichtungen und Hilfsystemen. Und ich will jetzt auch nicht sagen, dass das alles falsch ist. Ich will auch nicht sagen, dass Helfen an sich falsch ist, dass man davon grundsätzlich ablassen sollte. Nein, das will ich tatsächlich nicht sagen. Und doch ist das Helfen manchmal der falsche Weg.

Denn zum Helfen gehört dazu, dass ich als Helfer stärker bin als diejenigen, denen ich helfe. Es gibt eine Abstufung. Ich stehe über Dir und Du stehst unter mir, nicht in einem hierarchischen System, aber ich bin der Stärkere und Du bist automatisch der Schwächere. Wir sprechen zwar von Hilfe auf Augenhöhe und ähnlichen Dingen, das mag auch in den Broschüren und auf den Webseiten alles so sein und auch unsere Absicht sein. Aber faktisch ist dem nicht so. Und das kann zu einer Arroganz des Helfens führen. Ich weiß besser, was gut für Dich ist. Das musst Du jetzt so machen. Und ich erwarte dann von demjenigen, dem ich helfe, dass er sich auch entsprechend verhält. Das derjenige auch macht, was ich will, weil ich es ja weiß.

Helfen kann auch abhängig machen. Und ich glaube, das erleben wir sehr oft gerade in unseren Systemen der Hilfe, dass wir Menschen nicht dazu befähigen, aus sich selbst heraus zu leben, ihre Dinge selber zu erledigen, sondern die Systeme sind so angelegt, dass die Menschen darin verbleiben. Aber was dann passiert, gepaart mit der Arroganz, von der ich gesprochen habe ist, dass wir den Menschen durch unser Helfen die Würde nehmen, die Würde eines autonomen Wesens. Wir nehmen ihnen die Würde eines erwachsenen Menschen, eines Menschen, der selbst entscheiden kann und soll und vielleicht und hoffentlich auch will.

Jeder Mensch hat das Recht auf sein Schicksal. Jeder Mensch hat das Recht auf sein Leiden.

Und wir haben nicht das Recht dazu, das dem anderen Menschen einfach abzunehmen. Ganz im Gegenteil, indem wir uns einmischen, machen wir die Sachen noch viel schlimmer. Wir wissen aus der Familienaufstellung, dass bestimmte Schicksale mit anderen Schicksalen der Familie verbunden sind. Und das bedeutet, dass das Leiden und das Schicksal einen tieferen Sinn haben. Und dass es darum geht, diesen tieferen Sinn zu erkennen, damit das Leiden ein Ende finden kann. Denn vorher findet das Leiden nie ein Ende.

Ich kann mich an mehrere Augenblicke während meiner Ausbildung in Familienaufstellung erinnern, wo jemand sein Schicksal erkannt und sein Leiden angenommen hat und daraus Größe und neue Würde gefunden hat. Das waren besondere kostbare Augenblicke, die ich nicht missen möchte, erlebt zu haben. Wenn wir helfen, dann kann es passieren, dass jemand nicht zu seinem Schicksal findet und nicht zu seinem Leiden. Und wer nicht zu seinem Schicksal und seinem Leiden findet, der findet auch nicht zum Leben.

Das heißt nicht, dass wir nicht helfen, wo wir gefragt werden. Das heißt nicht, dass wir nicht dort einschreiten, wo unmittelbare Gefahr besteht. Das heißt auch nicht, dass wir uns nicht anbieten, dort wo es notwendig ist.

Aber es heißt, dass wir einen Menschen auch gehen lassen, dass wir Menschen auch leiden lassen, wenn er oder sie gar nicht anders kann oder will. 

Wofür ich plädiere, ist eine andere Haltung des Helfens und zu den Menschen, denen ich helfen möchte und kann. 

Den stärksten Ausdruck findet diese Haltung in dem Satz: Ich kann nichts tun und ich darf nichts tun.

Diese Sätze beim Helfen bewahren uns davor, zu schnell einzuschreiten und in die Bresche zu springen. Zunächst kann ich nichts tun, zunächst ist mir jegliches Handeln untersagt. Erst dann, wenn ich um Hilfe gebeten werde, kann ich überhaupt etwas tun. Schon das Angebot der Hilfe, kann eine Grenzverletzung sein, kann eine Form des Einschreitens sein, eine Form etwas verändern zu wollen. Aber ich sage mir, ich kann nichts tun und ich darf nichts tun.

Wenn dann jemand auf mich zukommt, der mich um Hilfe fragt. Dann komme ich aus der inneren Leere heraus, nicht aus erstens, zweitens, drittens, viertens und was ich sonst noch alles tun kann, sondern Helfen aus der Leere heraus, aus einer Offenheit heraus, was das Helfen in diesem Fall sein kann.

Und diese neue Haltung dem Helfen gegenüber bedeutet auch, dass ich mich dem Schicksal nicht in den Weg stelle und dass ich mich nicht einbinden lasse in das Schicksal eines anderen Menschen. Ich muss immer wieder rausgehen, ich muss mich immer wieder schützen vor dem Schicksal anderer Menschen. Ich darf nicht zum Teil des Systems werden, soweit man das überhaupt schaffen kann. Ich muss mich zumindest so lange entziehen und so stark wie es geht und nur das tun, wozu ich beauftragt wurde oder gebeten wurde. Und nur das, wozu ich in der Lage bin.

Dahinter steckt für mich dieser großer Respekt vor dem anderen, vor seinem Leiden und vor seinem Schicksal. Ich möchte ein kleines Beispiel anbringen. Eine Situation, die man immer wieder mal erleben kann. Eine alte Frau bepackt mit vielen Tüten und Taschen versucht mühsam über die Straße zu gehen. Jemand kommt und fragt, ob er helfen kann, die Frau will nicht, sie wehrt das Angebot ab. Der Helfende wird energischer “Kommen sie, das schaffen wir doch!” Und es gelingt ihm dann schließlich, die Frau zu überreden und zu begleiten und auf die andere Straßenseite zu bringen. 

Genau das meine ich und damit. Helfen kann etwas sehr Entmündigendes haben und hat auch die Tendenz, dass sich jemand dem Schicksal in den Weg stellt und dass der Respekt vor der Würde des anderen nicht gewahrt bleibt. Wenn die Frau, der ich ein Hilfsangebot gemacht habe, das abschlägt, dann ist für mich die Geschichte vorbei. Dann darf ich sie gehen lassen, auch wenn es für sie mühsam ist, die Straße zu überqueren. Aber es ist ihre Entscheidung. Sie darf diesen Weg gehen, Menschen dürfen leiden.

Vielleicht ist das harter Tobak, wie wir so gerne sagen. Aber das ist für mich auf Dauer die einzige Form, wie Helfen überhaupt noch funktionieren kann. 

Ich bin jetzt schon auf Deinen Kommentar gespannt.

Hab eine entspannte Zeit.


korrigiertes Transskript


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