Wer bist du wirklich, und ich frage mich das auch selbst: Wer bin ich wirklich? Bin ich der, der sich eben geärgert hat, oder der, der über Missgeschicke anderer, über Fehler meines Gegenübers und über die Nachlässigkeit meiner Freunde lässig hinwegsieht? Bin ich der? Und du? Bist du diejenige, die ängstlich in die Zukunft schaut oder die, die eben noch die Blumen gegossen und vorhin ein Buch gelesen hat? Bist du die oder die andere? Und ich könnte immer weiter fragen und immer neue Situationen beschreiben und einander gegenüberstellen und stets würde ich fragen: Wer bist du? Wir erleben uns nämlich sehr unterschiedlich. Mal sind wir ängstlich, und eine Stunde später sind wir zuversichtlich. Mal sind wir beglückt und am nächsten Tag niedergeschlagen. Wer von diesen inneren Zuständen sind wir wirklich, oder ist alles nur ein Wechselspiel der Gefühle? Ist alles nur ein Hin und Her, und im Grunde gibt es nichts, was bleibt. Denn das wäre es ja, was wir sind – etwas, das sich durchzieht und sich nicht so einfach ändert, etwas, an dem wir dauerhaft und in allen Zuständen erkennen können, wer wir sind, weil es immer auftaucht und sich zeigt. Wer also bin ich wirklich? Und wer bist du wirklich?
Warum haben wir überhaupt diese Frage, wer ich wirklich bin?
Warum werden wir uns selber zur Frage und warum ist uns nicht klar, wer wir sind? Ein Fehler im System? Ja, man kann es so sehen. Ich würde es aber anders beschreiben. Die Möglichkeit, sich selbst zur Frage zu werden, sich zu verfehlen, das ist der Preis des Menschseins. Indem wir Menschen geworden sind, haben wir zugleich die Möglichkeit, uns selbst zu finden und Großartiges in diese Welt zu bringen, und wir haben die Möglichkeit, uns zu verfehlen und ein Leben zu führen, das gar nicht zu uns passt. Freiheit heißt immer auch in die falsche Richtung gehen zu können. Und um unser Leben zu verfehlen, haben wir viele Möglichkeiten, die uns sozusagen zur Verfügung stehen oder besser ausgedrückt, die uns angetan werden können.
Was unsere Kindheit damit zu tun hat
Natürlich sind die Einflüsse in unserer Kindheit ein wichtiger Faktor. Hier entscheidet sich viel, und es entscheidet sich auch, wie wir mit der Frage umgehen, wer wir sind und wie wir überhaupt erkennen, wer wir sind. Sind wir als Kinder nur dafür da, die Ehe unserer Eltern zu kitten? Sind wir für die emotionalen Bedürfnisse unserer Mutter da gewesen? Oder sind wir einfach irgendwie ins Leben gekommen? War es, wie man so unschön sagt, ein Unfall, dass wir gezeugt wurden? Und weiter gefragt: Wie ist man mit uns umgegangen? Was haben wir erlebt? Alles, was wir erleben, macht eine Aussage darüber, wie wir gesehen werden. Ich weiß zum Beispiel, dass ich als Kind darunter gelitten habe, dass man im Kindergarten keinen Platz für mich hatte. Die anderen Kinder in der Nachbarschaft gingen jeden Morgen zum Kindergarten, ich blieb zu Hause. Das war nicht nur schade, es war eine Botschaft, die ich dadurch erhielt, die ich lange nicht erkannte und die ihr Unwesen in meinem Inneren trieb. Ein Menschenleben pendelt zwischen zwei Verhaltensweisen hin und her. Es geht um Anpassung und Selbstsein. Und es kann gar nicht darum gehen, sich nirgendwo anzupassen. Es gehört ganz wesentlich dazu. Wenn sich niemand anpasst, dann kommen wir nicht zusammen, wir finden keine Kompromisse mehr, weil jeder auf seine Meinung und Forderung besteht. Das kann also nicht das Ziel sein. Aber es kann auch nicht das Ziel sein, dass wir uns so anpassen, dass wir uns selbst nicht mehr finden. Und das geschieht sehr häufig – vielleicht weniger bei den Kindern heute, aber bei dir und deiner Generation vermutlich schon. Und bei mir auch. Wir versuchen dann alles für unsere Eltern zu tun oder für die geliebte Lehrerin und für die Freunde in der Klasse, die Clique oder für wen auch immer. Und so beginnen wir, eigene Bedürfnisse und eigene Wesensarten zurückzustellen. Wir ignorieren uns selbst und verlieren uns damit auch. Und bei Kindern heute, die oft als Einzelkinder aufwachsen und allein dadurch sich wenig anpassen müssen, geschieht etwas anderes. Denn um herauszufinden, wer ich wirklich bin, brauche ich auch die anderen. Am Anderssein der anderen, an ihren anderen Meinungen, anderen Wünschen erkenne ich mich erst. Und dieses Erkennen geschieht dann, wenn ich damit in Kontakt komme, wenn ich herausgefordert bin von Menschen, die etwas anderes wollen als ich.
Sich anpassen oder sich treu bleiben?
Der magische Punkt dabei ist natürlich der, dass ich bei aller Anpassungsleistung mich selber nicht aufgebe, sondern mich darin erst entdecke. Indem ich merke, was ich nicht will, nicht denke, was ich nicht meine, kann ich erkennen, was ich will und wer ich bin. Ein extremer Fall der Anpassung kann durch ein Trauma geschehen. Ein Trauma ist ja ein massiver Eingriff in mein Selbstsein. Und das bringt daher auch alles durcheinander, was ich bis dahin von mir und über mich gedacht habe. Es sagt mir zum Beispiel: Ich kann mich nicht schützen. Ich bin klein und andere sind stark. Oder es sagt mir: Ich muss meine Verletztheit um alles in der Welt schützen. Und so entsteht eine Persönlichkeit, die wenig mit dem zu tun hat, was im Inneren, ganz tief in dir ruht und darauf wartet, entdeckt zu werden.
Lege mal alles zur Seite!
Aber es muss natürlich auch nicht gleich so krass kommen. Die ganze Gesellschaft ist ja darauf aus, nicht dich zu traumatisieren, aber dich sehr wohl zu erziehen, dass du gut ins Bild passt, dass du funktionierst. Es gibt Schulen ja nicht, damit du lernst zu lesen und zu schreiben und dich im Leben auszudrücken, dich zu entdecken – wie müsste eine Schule aussehen, die das als Ziel hätte? Nein, du sollst am Ende einen Beruf ausüben, Geld verdienen, Steuern generieren, und das war es dann auch. Dich selbst zu entdecken ist nicht das Kerngeschäft der Gesellschaft. Und so gehen wir unseren Weg, durchlaufen wir die Institutionen, die uns erziehen und bilden, wir erleben unsere Familie, unsere Eltern und wundern uns dann, dass wir nicht wissen, wer wir wirklich sind. Doch im Inneren schlummert ein Wissen darum, ein Wissen über uns. Wir kommen vielleicht nicht heran, es mag sein, dass wir davon keine Kenntnis haben, aber es ist da. Und wenn wir uns einmal erlauben, uns jenseits unserer Rollen, jenseits unserer Meinungen, unserer Gefühle und unserer Gedanken zu betrachten, wenn wir das alles einmal zur Seite legen und dann schauen, was wir dann sehen, kannst du dir das vorstellen? Kannst du dir vorstellen, dich so anzusehen, von all dem einmal Abstand zu nehmen, von all deinen festen Überzeugungen, wie das Leben geht, wie du bist, wer du bist, von allen Gefühlen und Gedanken Abstand nehmen, kannst du dir das vorstellen? Denn was du dann erkennen kannst, was du dann wahrnimmst, ist etwas ganz anderes als das, was du bisher über dich vermutlich gedacht hast. Denn es gibt diese Konstante in uns, von der ich am Anfang schon sprach. Ich sprach davon, weil sie notwendig ist, um zu sagen, wer wir sind. Denn wenn ich mal so und mal so bin, in einem Augenblick bin ich freundlich und im nächsten ärgerlich, das kann passieren und ist in einem gewissen Rahmen normal, doch wenn ich ständig hin und her switche, dann kann ich nicht erkennen, wer ich bin. Ich könnte höchstens sagen: Ich bin der, der in einem Augenblick freundlich und im nächsten Augenblick ärgerlich ist. Mit anderen Worten, ich bin der Wankelmütige, der Unberechenbare. Doch das scheint mir keine Qualität zu sein, mit der ich mich gerne selber beschreibe. Es braucht also eine andere Konstante, und die erkenne ich erst, wenn ich all das, was sich verändert und nach eigenen Gesetzen auftaucht und wieder verschwindet, wenn ich von all dem Abstand nehme. Und dann? Was geschieht dann? Dann öffnet sich etwas Neues und Anderes – vielleicht zum ersten Mal.
Die besondere Qualität des Seins
Wenn du also in diese besondere Qualität vorgestoßen bist, dann entdeckst du nämlich, dass es jenseits von Gefühlen und Gedanken, den häufigsten Inhalten unseres Bewusstseins, dass es da noch etwas anderes gibt. Und dieses Andere ist das, was du wirklich bist. Du bist nämlich nicht das, was du über dich denkst, schon mal gar nicht, was andere über dich denken, du bist nicht das, was du fühlst – so schön es auch sein mag. Du bist weit mehr, dein Sein geht darüber weit hinaus. Wenn du beginnst, dich wirklich zu entdecken, dann wirst du beginnen zu staunen. Ohne in eine Hybris zu verfallen, in eine Form des Narzissmus wirst du erkennen, dass du voller Ruhe und Klarheit bist. Jenseits von Gedanken und Gefühlen beginnt das Reich der Stille und der Klarheit. Vorbei die Zeit, wo du Sklave deiner Gedanken warst, vorbei die Zeit der Verwirrung und des Nebels in dir. Hier an diesem Ort, an diesem Jenseits, bist du ruhig und klar, wie ein Gebirgssee. Und nicht nur das, du bist auch voller Mitgefühl. Du musst nämlich gar nicht erst lernen, mitfühlend zu sein, musst keine Kurse dazu belegen oder Bücher dazu lesen. Das kannst du alles tun, doch geht es nie darum zu lernen, mitfühlend zu sein. Es geht immer darum, dein Mitgefühl zu entdecken – im wahrsten Sinne des Wortes. Es geht darum, die Decke wegzuziehen und dann zeigt sich dein Mitgefühl, ganz natürlich, wie von selbst. Du bist längst mitfühlend, du bist längst still und klar, du bist längst zuversichtlich – du hast es nur noch nicht entdeckt, hast es nicht wahrnehmen können, weil du anderes wahrnehmen musstest und wolltest. Du hast deine Entdeckungsreise zu dir selbst abgebrochen, weil es zu unbequem für diese Welt war, weil du dich erst schützen musstest und aus der gefühlten Notwendigkeit, dich zu schützen, gar nicht mehr heraus kamst. Und wenn du diese Entdeckungsreise wieder beginnst, wenn du also alles lässt, was man dir über dich gesagt hat, was andere meinen bei dir entdeckt zu haben, dann wirst du irgendwann – es kann etwas dauern, weil sich nicht gleich alles zeigt und erschließt - aber mit der Zeit wirst du dann tatsächlich entdecken können, dass du vollkommen bist und dass Fehler nicht schlimm sind. Und du wirst entdecken können, dass du eine ganz besondere und eigene Art hast zu leben und Dinge zu tun und zu verstehen, und diese Art und Weise ist nicht besser und nicht schlechter als die der anderen Menschen, sie ist einfach anders. Es ist übrigens nicht so, dass wir hier an diesem Punkt der Entdeckungsreise keine Angst mehr haben, keine Wut. Nein, das wäre auch unmöglich. Wir werden uns weiterhin ärgern, wütend werden und uns verteidigen müssen und wollen – ich vermute aber, dass das immer weniger nötig sein wird, aber es wird immer wieder vorkommen. Aber es ist ein ganz bestimmter Unterschied entstanden, wenn du die Reise wieder aufnimmst. Und der Unterschied ist, dass du alle Ängste und Gedanken entthront hast. Sie sind da, dürfen da sein, aber sie haben ihre alles bestimmende Macht verloren. Sie sind nur noch das, was sie eigentlich immer waren und hätten sein sollen: Eine Variante des Selbsterlebens, die dir wichtige Informationen und Ressourcen zur Verfügung stellen – mehr nicht. Bisher hast du das, was du gedacht hast und was du gefühlt hast, als Wahrheit angesehen, als das, was du bist. Aber du wirst erkennen, dass dem nicht so ist. Das bist du gar nicht, das ist nur ein Teil von dir.
Wie kannst du nun diese Reise zu dir, zur Selbstentdeckung beginnen?
Das Naheliegendste habe ich eben schon genannt. Lerne dich zu desidentifizieren. Roberto Assagioli, ein Schüler Freuds und der erste Psychotherapeut, der Spiritualität in die Therapie integriert hat, hat die Übung der Desidentifikation entwickelt. In einem meditativen inneren Zustand spricht man dann Sätze wie: Ich habe Gedanken, aber ich bin nicht meine Gedanken. Ich habe Gefühle, aber ich bin nicht meine Gefühle. Und so weiter. Am Ende bleibt ein offener Raum übrig, eine ganz besondere Qualität des Seins, deines Seins, die jenseits ist, jenseits von Gedanken und Gefühlen, von Meinungen und Vorstellungen, von Glaubenssätzen und von Empfindungen.
In diesem Zustand erlebst du reines bewusstes Sein - du bist einfach nur, du bist Sein. So fühlt es sich an, du zu sein.
Ohne Frage kann es dafür nötig sein, alte Wunden zu heilen, die uns in solchen Augenblicken gerne in die Quere kommen, die ihre Chance nutzen und hoffen, endlich gesehen zu werden. Aber auch hier hilft dir der Zustand des reinen Seins. Denn Heilung geschieht immer dann, wenn die Wunden deines Lebens mit deinem reinen und heilen Sein in Berührung kommen. Alle Heilung geschieht genau so. Dein Sein heilt dich.
Wo es keinen Unterschied mehr gibt
Und noch etwas: Wenn du in diesem Sein angekommen bist und wenn du immer tiefer gehst und bereit bist, tiefer zu gehen, dann entdeckst du das nächste Wunder. Du entdeckst, dass es einen Bereich oder Raum in dir gibt - das alles sind nur Metaphern und keine Beschreibungen, einen Raum, in dem du dich und Gott nicht mehr unterscheiden kannst. Es ist ein ganz besonderes Erleben, so weit und so tief zu kommen. Aber dort erkennst du nicht mehr: Hier begegne ich Gott oder etwas Ähnliches, also eine Dualität zwischen mir und Gott. Das erkennst du dort nicht mehr. Du kannst den Unterschied nicht mehr sehen, du spürst beides zugleich, in einem.
Und weißt du was? Dann hast du wirklich erkannt, wer du wirklich bist.
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