Als ich Jugendlicher war, gehörte das Schreiben zu meiner Art der Lebensbewältigung und des Zeitvertreibs. Mein Tagebuch zur Hand zu nehmen und all meine Fragen und Sorgen darin niederzuschreiben war existenziell für mich. Daneben gehörten auch Romane dazu, wie ich meine Geschichten nannte. Das waren bei weitem keine Texte mit vielen Seiten, sondern umfassten meistens 10 oder 12 DIN A4 Seiten, die von Hand geschrieben waren. Ich glaube, dass diese Geschichten noch irgendwo auf dem Dachboden des Klosters zu finden sind.
Später begann ich kleine lyrische Texte zu schreiben, wie Du sie auf meiner Seite finden kannst. Ich hatte nie den Anspruch, ein großer Lyriker zu sein, ein neuer Rilke oder eine Reinkarnation von Hermann Hesse. Mir war es wichtig, etwas Inneres auszudrücken, einem inneren Phänomen Gewicht zu geben, indem ich es aufschreibe. Es drängt mich immer wieder dazu, mein inneres Erleben und meine Erkenntnisse in Worte zu fassen und auf ein Blatt Papier oder auf einen Bildschirm zu bringen.
Und so hilft mir das Schreiben in vielerlei Hinsicht.
Durst nach Tiefe
Denn wenn ich in meinen Alltag schaue, dann spüre ich immer wieder, wie sehr ich Durst danach habe, mehr Bewusstheit in mein Leben zu bringen und immer mehr an Tiefe zu gewinnen. Vielleicht geht es Dir ähnlich. Auch mein Alltag besteht ja zu einem großen Teil aus vorhersehbaren Abläufen und banalen Handlungen. Das alles möchte ich aus einer noch größeren Tiefe betrachten können.
Und weiter ist es so, dass ich meine Dinge zu erkennen und Phänomene zu spüren, die ich nicht nur in meinem Kopf haben möchte, die ich ansehen will, die ich auch morgen noch vor mir liegen haben möchte, um darauf zurückzugreifen. Vielleicht werde ich dann damit arbeiten oder Neues daraus machen.
Das Schreiben ist eines der einfachsten Werkzeuge, die wir zur Verfügung haben. Und auch, wenn Künstliche Intelligenz uns irgendwann abnehmen wird, Artikel zu schreiben, Mails und Briefe zu formulieren, kann mir keine Künstliche Intelligenz das Tagebuchschreiben abnehmen, und auch ein Gedicht zu schreiben, das mein Empfinden ausdrückt, wird sie nicht schaffen.
Und obwohl das Schreiben so basal ist, überrascht es doch eigentlich, dass wir es so selten für unseren spirituellen Weg nutzen, oder?
Bedürfnis sich auszudrücken
Wobei kann uns das Schreiben aber helfen? Zunächst ist der Prozess, etwas zu erleben und zu erfahren und dann dafür ein Wort zu finden, etwas Grundlegendes und Wichtiges für uns. Solange es nur ein inneres Phänomen ist, für das wir keine Worte haben, so lange kann die Erfahrung nicht wirklich bewusst sein. Um ganz in unser Bewusstsein zu kommen, braucht es ein Wort dafür - so vorläufig es auch sein mag. Das ist auch ein Prozess, der in unserem Gehirn stattfindet. Die Erfahrung machen wir meistens mit der rechten Gehirnhälfte, und wenn wir ein Wort dafür finden wollen, müssen wir die Fähigkeit der rechten Gehirnhälfte heranziehen. Durch diesen Prozess können wir Erfahrungen besser speichern, wir können darüber sprechen, können sie an andere weitergeben. So stärkt dieser Prozess unseren Austausch mit der Umgebung. Und wenn wir dann diese Worte noch niederschreiben, wird die Erfahrung durch den Text zu einem Gegenüber. Die Erfahrung ist nun nicht mehr nur in mir, sie steht mir auf dem Blatt gegenüber und ich kann mich so ganz anders dazu verhalten, als wenn ich alles immer nur in mir trage.
Ich setze also etwas Inneres nach außen, es bekommt eine eigene Existenz jenseits von mir, und dadurch bekommt es auch eine ganz eigene Kraft.
Worte können mich zudem überleben. Bei inneren Erfahrungen ist das auch möglich, wenn wir von einem Bewusstseinsfeld ausgehen, jedoch nicht so explizit wie auf einem Blatt Papier oder wie zwischen zwei Buchdeckeln.
Suche nach dem Göttlichen
Ich erlebe das Schreiben immer auch als einen inneren Suchprozess, gerade wenn es um spirituelle Erfahrungen geht. Ich taste mich heran an das Göttliche, suche neue Worte, neue Wortverbindungen, und ich bin froh darüber, die deutsche Sprache zu beherrschen. Sie gibt mir die Möglichkeit, neue Worte zu erfinden und so einen noch präziseren Ausdruck dafür zu entwickeln, was ich spüre und was ich erkannt habe. Ich mache ja nicht umsonst Videos und schreibe vorher nieder, was ich in den Videos sage. Auch das, was ich in diesem Augenblick sage, habe ich vorher niedergeschrieben. Es hilft mir nicht nur, weniger Füllwörter zu nutzen, sondern auch mir selbst und dem spirituellen Wissen auf die Spur zu kommen.
Und das gilt in einem noch viel größeren Maße, wenn es um Lyrik geht. Hilde Domin schrieb einmal, dass das Schreiben von Lyrik das Allerindividuellste ist. Lyrik ist zutiefst persönlich, wenn sie gute Lyrik sein will. Dadurch aber, dass sie so persönlich ist, wird sie erst so allgemein, bekommt sie eine Bedeutung für viele, wenn nicht sogar für alle.
Wenn Du also beginnst, Deine Gedanken niederzuschreiben, Dich suchend zu bewegen, um nahe an das Geheimnis des Lebens und Gottes zu kommen, dann ist das ein zutiefst hilfreicher Prozess für Dich, der Dich garantiert weiterbringen wird. Es geht nicht darum, schon mal nach einem Verlag zu suchen oder sich mit anderen Lyrikern und Lyrikerinnen zu vergleichen. Es geht darum, dass Du Deinen Suchprozess startest und ihm einen Ausdruck gibst. Und dafür empfehle ich Dir wärmstens das Schreiben.
Mystiker schreiben
Und wenn Du in die Geschichte der Spiritualität schaust, dann wirst Du schnell entdecken, dass die meisten Mystiker und Mystikerinnen viel geschrieben haben. Denk einmal an Hildegard von Bingen, an ihre Bücher über Heilung, die Natur und bis hin zu ihren Notenwerken. Denk einmal an Meister Eckhart und seine Predigten. Sri Aurobindo, um auch einmal jenseits des Christentums zu schauen, hat ebenfalls viel geschrieben.
Diese kleine Liste könnte ich spielend leicht fortsetzen. Sie alle haben nicht nur geschrieben, weil es notwendig war. Meister Eckhart hat Predigten schreiben müssen, er war ja Priester und musste Predigten halten. Aber ich bin sicher, dass ihm das Schreiben selber ein wichtiges Werkzeug war.
Und deshalb empfehle ich es auch Dir. Beginne zu schreiben, wenn Du es jetzt noch nicht tust. Beginne Worte zu finden für Dein Empfinden. Ich kann mir kaum ein einfacheres und hilfreicheres Werkzeug vorstellen als das Schreiben.
Wenn ich Dich bis hierher schon überzeugen konnte, lade ich Dich zu meinem nächsten Intensivtag ein. Dieser Tag steht unter der Überschrift: Kontemplatives Schreiben. Und anhand zahlreicher Übungen und Schreibanlässe werden wir gemeinsam auf die Suche nach Worten und Sätzen gehen, nicht um damit etwas Künstlerisches zu schaffen, sondern um damit auszudrücken, was Du fühlst und spürst.
Übungen
Abschreiben
Ich möchte Dir heute drei Übungen mitgeben, die Dir helfen können, das Schreiben neu zu erleben und zu erfahren. Die erste Übung ist denkbar leicht. Ich empfehle Dir, jeden Tag am Morgen einen Satz, der Dir wichtig ist, zehnmal abzuschreiben. Ja, das klingt wie nach einer der furchtbaren Strafarbeiten in der Schule. Aber so dumm waren die eigentlich nicht. Denn das Abschreiben und Wiederholen hat eine ganz eigene innere Wirkung. Es geht nicht nur darum, sich etwas zu merken, sondern es wirkt wie eine Art Inkubation.
Eine Übung ist nicht dafür da, dass Du etwas kannst. Du kannst ja schreiben und einen Satz abschreiben, das wirst Du auch können. Bei einer Übung geschieht etwas anderes Inneres, gerade wenn sie einfach und wiederholbar ist. Dann dringt nämlich etwas viel tiefer in uns ein als nur die Tatsache, dass ich mir etwas gemerkt habe.
Deshalb suche Dir einen wirklich guten Satz, bei dem Du möchtest, dass er Dich prägt. Er sollte nicht zu lang sein und auch kein Schachtelsatz, wie wir es im Deutschen gerne haben. Je einfacher, umso leichter wird es Dir fallen, und umso intensiver entfaltet er seine Wirkung.
Morgenseite
Dann kommen wir zur zweiten Übung. Hier geht es darum, dass Du jeden Morgen einfach niederschreibst, was Dir durch den Kopf und durch Deinen Körper geht. Was empfindest Du, was hast Du vielleicht geträumt, was denkst Du gerade, wovor fürchtest Du Dich, worauf freust Du Dich – all das. Das alles schreibst Du für 10 Minuten in einem Heft nieder. Du kannst es später lesen oder auch nicht. Aber Du wirst schnell spüren, wie hilfreich das ist. Es entlastet nicht nur, sondern hilft Dir auch viel besser, mit den Herausforderungen des Alltags umzugehen. Es entsteht ein ganz eigener Prozess, wie eine Art Selbsttherapie.
Du merkst, ich komme aus dem Loben und Schwärmen gar nicht mehr raus. Diese beiden Übungen sind eine wunderbare Möglichkeit, mit dem Schreiben anzufangen, da sie Dich wenig dazu verführen, zu hohe Ansprüche an Dich zu stellen.
Gedicht I: Elfchen
Nun möchte ich Dir noch einen weiteren Weg vorstellen, wie das Schreiben Dich begleiten und unterstützen kann. Es geht um das formgebundene Gedicht. Das heißt ein Gedicht, das Dir Silbenzahl, Anzahl der Worte oder Zeilen vorgibt. Das mag zunächst einengend wirken, ist aber sehr hilfreich, um auf den Punkt zu kommen.
Ich halte es gerade im spirituellen Leben für wichtig, mit wenigen Worten möglichst alles zu sagen. Deshalb ist auch eines meiner Lieblingsgedichte folgendes von Giuseppe Ungaretti:
M'illumino / d'immenso
Ich erleuchte mich durch Unermessliches.
So kurz wird es nicht immer gehen, damit wir aber zu einer Verdichtung kommen und dadurch einer trivialen Beschreibung von spirituellen Erfahrungen entfliehen, dafür ist die Übung mit formgebundenen Gedichten so wichtig.
Zwei Formen möchte ich Dir vorstellen. Das erste wirst Du vielleicht kennen, es nennt sich Elfchen. Eine niedliche Bezeichnung für einen durchaus ernsten Prozess, den es braucht, um ein Elfchen zu schreiben. Es besteht aus 11 Worten in 5 Zeilen.
1 Wort: Identifiziere das Thema. Ein Fest, eine Farbe, ein Gegenstand...
2 Worte: Beschreibe das Thema genauer. Wie ist es?
3 Worte: Was geschieht im Zusammenhang mit dem Thema?
4 Worte: Was denkst oder fühlst Du?
1 Wort: Welches Wort fasst alles zusammen? Was ergibt sich daraus?
Ein Beispiel:
Leben
überall spürbar
wachsen und blühen
geistige Berührung und Dankbarkeit
Wald
Gedicht II: Haiku
Und hier ist die Beschreibung für die andere Form, die etwas komplexer ist, aber zu intensiverer Verdichtung führt und an der sich schon viele Menschen versucht haben: Das japanische Haiku.
Ein Haiku besteht aus drei Zeilen. Die erste Zeile hat fünf Silben, die zweite hat sieben und die dritte wiederum fünf Silben.
Im Zentrum eines Haikus steht eine Erfahrung oder Beobachtung aus der Natur oder der unmittelbaren Umgebung. Und diese Erfahrung wird auf den Punkt gebracht.
Hier ist mein Haiku aus der Beobachtung nach dem großen Regen letzte Woche:
Hängt an der Rinne
der Tropfen will sich lösen
er wagt den Sprung: Freiheit
Lieber David, ich habe eine Frage zur Übung „Abschreiben“. Sollte man sich selbst einen Satz ausdenken, z.B. eine positive Affirmationen oder könnte man auch ein kurzes Zitat abschreiben?
Natürlich kannst du aucb ein Zitat nehmen, das dich anspricht. Probiere es und teste, was für dich passend ist und wirkt. David