Warum Pflanzen unsere spirituellen Meister sind

8. Juli 2023

Manchmal, da rieche ich noch den Duft der Pappeln auf unserem Hof und die aufgebrochene Erde nach dem Pflügen auf den Feldern. Ich höre noch das Rauschen des Windes durch die großen Bäume und sehe die Schönheit der Schwertlilien und der Gladiolen im Beet vor dem Haus. Das gehört ganz wesentlich zu meinen Kindheitserlebnissen dazu.
Auch der Geschmack der eigenen Tomaten aus dem Garten, der Erdbeeren oder von Kohlrabi sind Teil dieser ganz persönlichen Erinnerungskultur.
Ich bin auf einem ganz klassischen Bauernhof aufgewachsen und war immer von Tieren und von ganz viel Natur umgeben. Unweit unseres Hauses war ein Wald, in dem ich mich oft aufgehalten habe.
Dennoch spielte die Natur für mich in meiner Spiritualität nur eine sehr untergeordnete Rolle. Als Kind war das noch ein ganz natürlicher Teil meines spirituellen Empfindens. Im Kloster habe ich dann intensiv an meiner Spiritualität gearbeitet und dabei die Natur, die Lebendigkeit völlig vergessen.


Wie ich das Leben vergaß

Ich habe mich mit dem Neuplatonismus beschäftigt, mit philosophischen Fragen und Einsichten. Und das alles ist wichtig und wird auch weiterhin Teil meines Denkens sein. Aber ich muss zugeben, dass ich die Lebendigkeit darüber vergessen habe. Es war alles gut durchdacht und im besten Fall auch mit Erfahrungen belegt. Und doch war all dies sehr trocken und sehr vergeistigt und hatte wenig vom Leben in sich.
Und ich weiß gar nicht, wie es gekommen ist, dass sich das geändert hat. Es ist vielleicht ein oder zwei Jahre her, dass eine Wandlung begann. Ich spürte, wie gut mir der Aufenthalt hier im Stadtwald tat und begann mich wieder an meine Kindheit zu erinnern, wo ich ganz selbstverständlich mit der Natur umging und das Lebendige spürte. Und mehr und mehr wurde mir klar, dass ich etwas Wesentliches vergessen hatte: Die Lebendigkeit.
Ja, mir geht es nicht nur um die Natur, darum, wie wichtig Bäume sind, und mir geht es nicht nur um den Klimawandel und all diese Fragen. Sie sind zweifellos wichtig, aber ich möchte tiefer schauen. Und daher sage ich, dass es um die Lebendigkeit geht, um das Lebendige selbst.


Aber was ist Lebendigkeit?

Ich habe über diese Frage länger nachgedacht und habe verschiedene Aspekte gefunden, die für mich dazu gehören.
Das Lebendige ist Wachstum.
Es wächst und entwickelt sich, es wird größer, es wird tiefer, weiter. Wachstum gehört ganz wesentlich zur Lebendigkeit dazu. Ein Stein wächst nicht und entwickelt sich nicht aus sich selbst heraus. Aber eine Ameise und selbst ein Virus wächst und verändert sich, im extremen Fall mutiert es sogar. Aber das gehört dazu, das ist Leben.

Lebendigkeit ist suchend.
Und zur Suche gehört die Offenheit. Das Lebendige ist nicht ideologisch. Es nimmt sich das, was es braucht, wo es das findet, was es braucht. Es fragt nicht nach Würde, nach Schuld, nach Parteibuch oder nach Konfession oder Religion. Es nimmt dort, wo es findet. Und dafür sucht die Natur völlig offen. Ein Baum treibt die Wurzeln in die Erde und sucht einfach nach Halt und nach Nährstoffen - ohne Diskussion oder schlechtes Gewissen.

Das Lebendige besteht aus dem Werden und Vergehen.
Auch das Vergehen ist ein Ausdruck von Lebendigkeit. Denn die Lebendigkeit verschwindet ja nicht einfach, sie wandelt sich. Die Lebendigkeit ist auch keine Masse, nichts, was ich zählen, messen oder wiegen kann. Sie ist da und sie wandelt sich. Und alles, was lebt, ist Teil dieses Prozesses des Werdens und des Vergehens. Das Wachstum ist ein anderer Ausdruck dafür. Denn alles Wachstum findet irgendwann ein Ende und dann beginnt das Vergehen. Und so macht das Leben wieder Platz für eine neue Version, eine neue Möglichkeit, dass sich das Leben zeigt und etwas Neues versucht. Wir sind auch nur eine Version, Du und ich, wir sind auch nur eine Version und es wird nach uns neue geben. Das ist das Leben.

Lebendigkeit ist fruchtbar.
Fruchtbar ist nicht dasselbe wie Ergebnis oder Erfolg. Wir wollen oft Erfolg haben, und im Netz gibt es viele, die vor allem viel Geld haben wollen, mit wenig Einsatz. Doch das ist nicht Fruchtbarkeit. Fruchtbarkeit setzt etwas in Bewegung in dieser Welt, sorgt für Wachstum und nährt das Leben selbst. Sie ist nie nur für sich da. Der Apfel enthält den Samen für den nächsten Baum und ist zugleich auch Teil der Nahrungskette von Tieren. Und wenn der Apfel zu Boden fällt und der Samen nicht aufgeht, dann wird der Apfel Nährstoff für den Boden. Immer führt es weiter, führt es zu mehr Leben oder zu intensiverem Leben. Fruchtbarkeit hat immer ein Mehr an Leben im Sinn.

Lebendigkeit ist voller Lust, Freude und Großzügigkeit.
Die Natur hält sich nicht zurück und macht keine Kosten-Nutzen-Abwägung. Sie gibt freimütig und die Pfingstrose blüht auch dort, wo sie niemand sieht. Zudem könnte diese pralle Rose doch auch viel zurückhaltender und schlichter sein. Braucht es so viel Blüte, geht es nicht auch sparsamer? Nein, die Natur liebt die Üppigkeit, die Großzügigkeit und die Verschwendung, wie wir Menschen es nennen würden. Vielleicht fällt es der Natur deshalb so leicht, großzügig und verschwenderisch zu sein, weil sie auch dürre und sterbende Phasen bereitwillig erleben kann.
Daneben ist die Natur lustvoll. Zeugung und Gebären, Fressen und Saufen sind natürliche Prozesse, die öffentlich sind. Die Natur schämt sich nicht, sie zeigt sich offen für alle Prozesse. Und so darf alles freimütig genießen, darf sich in Lust ergehen und darf das zeigen. Das ist Lebendigkeit.

Lebendigkeit ist Austausch und Kooperation.
Es gibt kein einziges Lebewesen - ob Pflanze oder Tier -, das nicht von anderen lebt oder von dem niemand lebt. Jede Ameise, jeder Elefant, jede Distel und jede Rose - sie alle leben in einem großen Feld des Austauschs miteinander und der Kooperation. Dazu zählt auch das, was wir schwer ertragen können, wenn der Löwe die junge Antilope frisst und die Laus die Rose zerstört. Aber auch das ist Teil des Ganzen, ist Austausch und, ja, ist auch Kooperation.


Pflanzen und die geistige Welt

Um das alles wahrzunehmen, muss man nicht auf einem Bauernhof wohnen, irgendwo im Allgäu oder inmitten eines Stadtparks. Es reicht die Blume auf dem Balkon. Du kannst alles von dieser einen Blume erfahren, wenn Du sie beobachtest und befragst. Pflanzen haben einen ganz unmittelbaren und unverstellten Zugang zur geistigen Welt, zu jenem Bewusstsein, das alles verbindet. Und so überrascht es nicht, dass Pflanzen in Religionen eine wichtige Rolle spielen.

Jesus hat Pflanzen gerne in seine Gleichnisse eingebaut. Er hat ganz offensichtlich die Natur beobachtet, weil die Natur das Geistige ganz offen zeigt und erfahrbar macht. Und so sagte er:

"Und was sorgt ihr euch um eure Kleidung? Lernt von den Lilien des Feldes, wie sie wachsen: Sie arbeiten nicht und spinnen nicht. Doch ich sage euch: Selbst Salomo war in all seiner Pracht nicht gekleidet wie eine von ihnen" (Mt 6,28-29).

Oder denke einmal an das Senfkorn, das Jesus zum Symbol für die Ausbreitung des Reiches Gottes gemacht hat. Es ist so klein und doch kommt eine große Pflanze heraus.

Oder schauen wir in unsere eigene Urgeschichte. Für die Germanen ist es Yggdrasil, der Baum, der die Welten - Himmel und Erde und die Unterwelt - miteinander verbindet, auch Weltenesche genannt. Und im Paradies waren es zwei Bäume, die in der Mitte standen.

Pflanzen sind Ausdruck und Gleichnis für das, was nicht ausgedrückt werden kann. Unsere Sprache ist auf das Natürliche bezogen, daher können wir geistige Phänomene schlecht ausdrücken und müssen in Bildern reden. Pflanzen bieten sich dafür an, weil sie mit uns mehr gemeinsam haben als ein Stein - sie sind lebendig wie wir.


Lebendigkeit leben

Wenn Du eine Spiritualität leben möchtest, die voller Leben ist, dann wird es um Wachstum gehen. Du wirst schauen, wo Du wachsen kannst, wo und wie Du Dich nähren kannst. Du bleibst dabei suchend und offen. Es gibt nie ein Ende des Weges und auch kurz hinter der nächsten Kurve kann es noch sein, dass wir auf einen ganz anderen Weg geschleudert werden. Manchmal ist das Leben nicht sehr rücksichtsvoll.

Du wirst Deine Spiritualität fruchtbar machen wollen, dass mehr Leben entsteht und das Leben gefördert wird. Alles, was das Leben behindert, wirst Du meiden. Natürlich dürfen und müssen wir sogar all unser Tun kultivieren und damit in eine Form bringen, und damit gehört es auch dazu, bestimmte Dinge nicht zu tun oder anders als es uns gerade in den Sinn kommt. Aber das kann das Leben fördern und sollte es sogar. Erschaffe Dir eine Kultur der Lebendigkeit in Deinem Leben.

Und zu einer lebendigen Spiritualität gehören auch die Lust und Freude, der Genuss, die Hingabe. All das sind wichtige Ausdrucksformen des Lebendigen und wollen sich auch in Deiner Spiritualität wiederfinden.

Eine lebendige Spiritualität ist Austausch und Kooperation. Sie lebt die kosmische Gastfreundschaft, wie das Vogelnest Gast der Hecke ist, die Laus Gast der Rose und die Maus Gast im Garten. Wir sind überall, fast überall nur Gäste. Selbst in unserer Wohnung sind wir nur Gäste und in unserer Kleidung und in unserem Garten sind wir nur Gast. Zu erkennen, dass wir überall nur Gäste sind, weil wir nirgendwo bleiben können, hilft eine neue Sichtweise auf alles zu finden und damit auch eine neue Haltung. Denn dann beginnen wir uns auch wie Gäste zu verhalten - derzeit leben wir meistens wie Gutsbesitzer. Aber die gibt es nicht, nichts gehört uns, es ist alles nur geliehen. Das ist die große kosmische Gastfreundschaft.


Die stille Lebendigkeit

Und wenn Du dann mit diesem Wissen in tiefere Berührung gekommen bist - nicht nur, dass Du davon weißt, sondern wenn Du es wirklich innerlich gespürt hast, dann ist Deine Spiritualität lebendig. Lebendigkeit heißt nämlich nicht, zu tanzen, zu klatschen, laut zu sein, lustige Lieder zu singen - das kann es alles bedeuten, aber das ist nicht das Wesen der Lebendigkeit. Lebendigkeit kann nämlich auch ganz still sein, schweigend - wie vielleicht der letzte Atemzug, der Tod, der auch etwas ist, was zugleich lebendig ist, was uns mit dem Vergehen von allem, was ist, verbindet. Und aus dem dann etwas Neues wird.

korrgiertes Transskript


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