Manchmal habe ich den Eindruck, unsere ganze Gesellschaft besteht nur aus Opfern. Jeder und jede hat irgendjemand, der einem etwas angetan hat. Jeder hat Grund sich zu beklagen, dass jemand mir etwas vorenthält, mich missachtet, mich kränkt oder verletzt, oder abwertet.
Und das Ergebnis ist, dass ich zu einem Opfer werde und das hat weitreichende Konsequenzen. Das sind nicht nur mein Recht und die Situation wie sie sich darstellt, sondern das ist eine Veränderung meines Selbstverständnisses, das ganz tief bis in meine Persönlichkeit hinein reicht.
Und deshalb ist es so wichtig, dass wir heute darüber sprechen Und ich möchte darüber sprechen, warum es so wichtig ist, die Opferrolle zu verlassen und wie es Dir gelingen kann dies zu tun.
Nachfolgend möchte ich Dir zeigen, was es bedeutet in der Opferrolle zu leben Und wie Du in vier Schritten aus Deiner Opferrolle wieder herausfinden kannst.
Warum nur ist die Opferrolle so attraktiv? Sie ist sogar so attraktiv, dass jeder sich in irgendeiner Situation als Opfer fühlt. Und nicht nur weil es einfach faktisch so ist, im Sinne einer sozialen Rolle oder eines Geschehens. Ich kann auch Opfer bei einem Unfall sein. Das ist aber etwas anderes, als eine Opferrolle einzunehmen.
Warum ist das Opfer so attraktiv? Welche verschiedenen Gründe gibt es, warum man gerne Opfer ist und leider auch gerne dann in dieser Opferrolle bleiben möchte. Und ich weiß, das mag jetzt vielleicht für jemanden zynisch klingen, der Opfer einer Übergriffigkeit geworden ist, Opfer eines Unfalls oder eines Verbrechens. Und ich möchte hier niemanden etwas nehmen oder etwas absprechen. Dennoch gilt für alle: Der Weg in eine Zukunft ist immer der Weg aus einer Opferrolle heraus.
Also komme ich jetzt noch mal zurück zu dem Thema, warum ist die Opferrolle so attraktiv.
Und das erste was mir direkt ins Auge sticht ist, dass die Opferrolle es mir ermöglicht, passiv bleiben zu können, denn das Opfer erleidet ja etwas, erduldet etwas, ist in der passiven Rolle und der Täter oder die Täterin ist die aktive. Also ich kann passiv bleiben, andere müssen etwas machen, damit es mir besser gibt, andere müssen mich schützen, andere müssen mit etwas aufhören. Ich kann nur passiv bleiben und das ist ja zunächst auch die Situation bei einem Unfall oder bei einem Verbrechen. Aber wenn ich dann in die Opferrolle einsteige, dann gilt das für viele Lebensbereiche und nicht nur für den Augenblick des Unfalls oder des Verbrechens.
Die Opferrolle ist auch deshalb attraktiv, weil ich nicht verantwortlich und nicht schuldig bin. Ich bleibe unberührt und unschuldig und rein. Und das wird sehr positiv gesehen, andere müssen sich entschuldigen, ich bin unschuldig. Und auch hier, was bei einem Verbrechen oder einem Unfall faktisch so sein kann, wird übertragen auf viele andere Lebensbereiche und das macht es dann so problematisch.
Und weil man nicht schuldig ist, steht man auf der moralischen besseren Seite. Die anderen sind die Bösen, ich bin ja das Opfer und damit gut. Und damit habe ich eine Grenze gezogen und kann mich aufwerten, bin moralisch besser als andere.
Ja, und Opfer erhalten Mitgefühl, Fürsorge, positive Aufmerksamkeit. Auch das macht eine Opferrolle so attraktiv. Und so sind viele geneigt, in dieser Rolle zu bleiben. Die Wirklichkeit immer wieder so zu definieren und umzugestalten, dass man zu einem Opfer wird. Niemals ist man selber derjenige, der etwas anrichtet, anderen schadet oder dafür sorgt, dass man in die Opferrolle kommt. Immer sind es die anderen, die das tun. Und ich übertreibe hier ganz bewusst, um es deutlich zu machen.
In der Transaktionsanalyse gibt es das sogenannte Dramadreieck, das ich Dir hier gerne vorstellen möchte. Es macht sehr schön deutlich, wie sehr Täter und Opfer und auch die, die retten und schützen, zusammenhängen können. Das muss nicht so sein, aber es kann so sein.
Du siehst es hier, dieses Dreieck aus Verfolger, Opfer und Retter und das sind jetzt vielleicht krasse Worte, aber hier wird versucht, ganz allgemeine Lebenssituationen abzubilden. Und hier in diesem Dramadreieck wird abgebildet, wie ein ständiger Wechsel der Rollen stattfindet. Also nehmen wir mal einmal an, ein Vorgesetzter beschimpft laut und wütend eine Angestellte. Damit hätten wir einen Täter und das Opfer. Der Täter ist der Vorgesetzte und das Opfer ist die Angestellte. Eine Situation, die passieren kann und die vermutlich jeden Tag in irgendeinem Büro, in irgendeinem Unternehmen passiert. Nun kommt eine dritte Person hinzu, eine Kollegin, die dem Opfer, der Angestellten, beisteht und helfen will.
Nun kann es geschehen, dass der Verfolger nun auch den Retter beschimpft, also die Kollegin. So wird die Retterin zu einem Opfer. Und es kann genauso passieren, dass das Opfer sich die Einmischung der Kollegin verbittet und als unangemessen und übergriffig erlebt. Und siehe da, plötzlich wird das Opfer von vorhin, zum Täter und der Retter wird zum Opfer.Oder es kommt der Firmenchef in den Raum und sieht, was der Vorgesetzte mit der Angestellten macht und beschimpft seinerseits den Vorgesetzten laut und wütend und droht mit einer Abmahnung. Und so wird plötzlich der Verfolger zum Opfer. Verstehst Du worum es hier geht. Ständig können hier die Rollen wechseln, wenn sie miteinander verwoben sind und so entspinnt sich ein Drama, entspinnt sich eine ungute Situation, ein Geflecht von Beziehungen und Emotionen, die zu nichts Gutem führen. Denn schuldig und unschuldig sind zugleich alle.
Wie steigt man aus solch einem Dramadreieck wieder aus? Zunächst einmal ist es wichtig, dass Du Dir Deiner Rolle bewusst wirst. Werde Dir bewusst, welche Rolle habe ich gerade inne, bin ich jemand, der rettet? Es gibt Menschen, die retten ständig und gerne - gefragt oder ungefragt und werden wütend, wenn man es ihnen verwehrt.
Oder bin ich jemand, der Opfer ist oder jemand der verfolgt oder gerade überreagiert hat. Und dann wenn Du festgestellt hast, in welcher Rolle Du gerade bist, dann achte auf Deine eigenen Bedürfnisse: Worum geht es Dir, was ist Dein Anliegen, was möchtest Du, was möchtest Du nicht. Das ist ein guter Ausweg, um aus dem Dramadreieck auszusteigen. Aber das soll nicht der Weg sein, den ich Dir heute zeigen möchte mit den vier Schritten. Und doch halte ich es für wichtig das Dramadreieck zu kennen, um solche Situationen und menschlichen Spiele frühzeitig wahrzunehmen und zu unterbrechen.
Generell geht es beim Aussteigen aus der Opferrolle darum, wieder Verantwortung zu übernehmen. Das ist eigentlich das Wichtigste, wenn es darum geht, die Opferrolle zu verlassen. Denn das Opfer hat keine Verantwortung und in der Situation eines Verbrechens oder eines Unfalls mag das auch so sein, aber generell ist das natürlich nicht so. Jeder Mensch hat Verantwortung und muss lernen, Verantwortung zu übernehmen. Und zu dem Aspekt Verantwortung zu übernehmen, gehört eben auch, dass man schuldig wird. Wie aber kann man Verantwortung übernehmen lernen, um es mal so auszudrücken. Und was heißt das?
Erkenne zunächst einmal ob Du jemand bist, der schnell nach Schuldigen sucht. Suchst Du schnell nach jemanden, der es getan hat oder die es getan hat, die dafür verantwortlich ist. Also hast Du den Hang danach, jemand als schuldig zu definieren und sich damit selber oder andere zum Opfer zu machen? Wenn Du Verantwortung übernimmst, dann beginnst Du nicht nach Schuldigen zu suchen, sondern nach Lösungen. Das ist der Unterschied denn, einen Schuldigen zu definieren, hilft zunächst noch nicht, aus der Opferrolle raus zu kommen oder etwas zu verändern.
Jemand, der Verantwortung übernimmt für sein Leben, für das Leben an sich, für diese Welt, ist ein Mensch, der nach Lösungen sucht. Und das heißt, wenn Du beginnst, Verantwortung für Dein Leben zu übernehmen, dass Du wieder in die Gestaltung kommst. Du beginnst wieder zu gestalten, zu entscheiden, wie es sein soll, wie Du es möchtest, wie es am besten für Dich und für Dein Umfeld ist. Und wer entscheidet, der geht das Risiko ein, zu scheitern oder etwas falsch entschieden zu haben. Aber das gehört dazu, wenn man Verantwortung übernimmt. Und zum Gestalten und zum Entscheiden gibt es immer Raum, immer.
Jedes Opfer hat Raum für Gestaltung und für Entscheidung. Wenn Du Verantwortung für Dein Leben übernimmst, dann akzeptierst Du auch Dinge, die nicht zu verändern sind. Es gibt Dinge, die sind wie sie sind und die kannst Du nicht verändern, weil sie nicht in Deiner Entscheidung liegen. Und dann kann man sie nur akzeptieren und gucken, wie kann ich es einbauen, wie kann ich damit umgehen, finde ich eine andere Form damit umzugehen und so weiter.
Wenn Du beginnst, wieder Verantwortung für Dein Leben zu übernehmen, dann wirst Du wieder mehr auf Deine Stärken achten und wirst in Kontakt mit Deinen Stärken kommen, weil Du sie einsetzen möchtest, weil es Teil Deiner Verantwortung ist, Deine Stärken einzusetzen und damit Lösungen zu finden, Wege zu finden in Deinem Leben und für andere Menschen, für die Du vielleicht verantwortlich bist.
Und nicht zuletzt gehört auch dies dazu, wenn du Verantwortung für Dein Leben übernimmst. Du bist bereit allen Beteiligten zu vergeben, wenn sie Dir etwas angetan haben oder etwas falsch gemacht haben. Das muss nicht sofort sein und nicht morgen, aber auf Dauer wirst Du es tun bzw. Du hast zumindest die Bereitschaft dazu und den Willen dazu, dahin zu kommen, wenn Du Verantwortung für Dein Leben übernommen hast.
An dieser Stelle möchte ich auf den spirituellen Aspekt der Opferrolle eingehen. Wer sich als Opfer definiert und in die Opferrolle schlüpft, der entwickelt sich nicht weiter, denn Opfersein ist immer ein Stillstand. Denn das Opfer hält die Situation fest, in der es zum Opfer wurde. Und dadurch ist eine Entwicklung nicht möglich.
Außerdem verlierst Du den Zugang zu Deinem Möglichkeiten und zu Deinen Stärken, weil Du als Opfer schwach bist und Dich damit als schwach definierst. Du lebst nicht Deine Größe.
Und was sehr dramatische Auswirkung haben kann ist die unheilvolle Verbindung und Verbundenheit mit dem Täter, die sich aufrechterhält, wenn Du in der Opferrolle bleibst. Dann seid ihr wie ein Tandem, die zueinander gehören, ob sie es wollen oder nicht.
Die göttliche Liebe kennt kein Opfer und kennt keine Täter. Sie kategorisiert nicht und hat keine Rollen, die sie verteilt. Die göttliche Liebe sieht ganzheitlich und tief in die Herzen hinein. Und wenn wir tief in die Herzen hineinschauen könnten, dann würden wir in jedem Menschen Opfer und Täter erkennen, weil jeder Täter in gewisser Hinsicht auch Opfer ist und jedes Opfer das Potenzial zum Täter hat oder vielleicht auch schon geworden ist. Diese unheilvolle Entwicklung kann man sehr oft beobachten.
Ich möchte Dir nun vier Schritte vorstellen, die Du gehen kannst, um aus Deiner Opferrolle herauszukommen, um wieder Verantwortung zu übernehmen für alle Bereiche Deines Lebens.
Nimm eine Situation, in der Du Dich als Opfer gefühlt hast, wo Dir Gewalt angetan wurde oder nimm einen Unfall oder eine Situation, wo jemand verbal übergriffig war, laut oder aggressiv. Es ist egal, welche Situation Du wählst. Jede ist geeignet, wo Du Dich als Opfer gefühlt hast. Das ist das einzige Maß, das jetzt gilt.
Im ersten Schritt anerkenne was Dir angetan wurde. Das ist sehr wichtig. Und das suchen Opfer sehr sehr stark. In der ganzen Missbrauchstragödie der Kirche ist es mit das Wichtigste für die Opfer, dass sie endlich gesehen werden und Anerkennung finden. Und zunächst musst Du deshalb selbst anerkennen, dass Dir etwas angetan wurde.
Im zweiten Schritt geht es darum, Dir bewusst zu sein, dass Du nicht schuldig bist. Du bist nicht schuldig, was immer Dir angetan wurde, Du bist nicht schuldig. Es war die freie Tat eines anderen, niemand hätte das machen müssen. Der oder diejenige, welcher Dir das angetan hat, musste das nicht tun. Es gab keinen Befehl dazu, und selbst dann gibt es immer noch andere Möglichkeiten. Nein Du bist nicht schuldig. Das darfst Du Dir einhämmern und immer wieder vorsagen.
Beim dritten Schritt geht es darum, dass Du Dir selbst Mitgefühl schenkst. Gib Dir Mitgefühl für das, wie es Dir ergangen ist, was man Dir angetan hat. Mitgefühl ist kein Jammern, ist kein Mitleid sondern ist eben Mitgefühl. Ich fühle mit mir selbst und ich bedauere, dass mir das angetan wurde. Ich fühle sozusagen mit meinen eigenen Gefühlen. Mitgefühl kann auch heißen, dass ich mir sage, möge es mir besser gehen, möge ich zukünftig anders mit solchen Situationen umgehen, möge ich geheilt werden, und so weiter.
Und dann schließlich der vierte Schritt, bei dem Du übst, wieder in die Rolle der Führung für Dein Leben und in die Verantwortung für Dein Leben zu kommen. Schaffe Dir Situationen oder suche Dir Situationen, wo Du entscheiden und gestalten kannst. Gestalte möglichst rasch wieder Dein Leben. Das kann z.b. sein, dass Du Dir Hilfe holst und Unterstützung. Auch das ist ein Akt von Verantwortung übernehmen und Führung übernehmen und wieder die gestaltende Rolle einnehmen.
Noch mal zusammengefasst: Der erste Schritt anerkennen, was man Dir angetan hat, zweiter Schritt, werde Dir bewusst, dass Du nicht schuldig bist, dritter Schritt schenke Dir Selbstmitgefühl, vierter Schritt, finde bewusst wieder in die Rolle der Führung zurück.
Mich interessiert es zu erfahren, was Deine Gedanken zu der Opferrolle sind. Vielleicht auch Deine Erfahrung, wenn Du davon berichten magst. Schreib mir gerne einen Kommentar unter diesen Beitrag.
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