Nicht helfen sollen? Wirklich, kann es Gründe geben, nicht zu helfen? Dabei sind doch Barmherzigkeit und Hilfe das Merkmal des Christentums schlechthin. Wir haben große Werke gegründet: Caritas, Diakonisches Werk, Misereor oder Brot für die Welt. All das steht doch für das Christentum, ist doch Teil unserer DNA, oder etwa nicht?
Und dann soll es falsch sein zu helfen?
Das Urbild des Helfens steht doch immerhin im Neuen Testament. Der Samariter, der nicht wie die Schriftgelehrten am verletzten Mann am Straßenrand vorbeigeht, sondern ihn mitnimmt, versorgt und in einer Herberge sogar Geld dafür lässt, damit er auch nach seiner Abreise versorgt wird.
Oder denken wir an Mutter Teresa, die ja der moderne Inbegriff von selbstlosem Dienst an denen, die Hilfe benötigen, ist.
Sie hat es immerhin zu einem geflügelten Wort gebracht. Wenn man ausdrücken will, nicht allen Menschen helfen zu können oder zu wollen, dann fragt man gerne rhetorisch: Bin ich denn Mutter Teresa?
So, und nun das: Es soll falsch sein können zu helfen.
Helfen kann schaden
Ja, tatsächlich kann es falsch sein zu helfen, und sehr oft ist es das auch.
Manchmal frage ich mich, ob all unsere Sozialindustrie, die wir in den letzten Jahrhunderten aufgebaut haben, ob die nicht eher eine Verstetigung der Nöte als eine Änderung gebracht haben. Für Einzelne kann das anders sein, aber wenn wir auf das Ganze schauen, dann kann sich doch die Frage stellen, ob das wirklich geholfen hat.
Aber ich will hier gar nicht politisch werden, und ich will auch gar kein Geld kürzen.
Mir geht es um die Hilfe, die ein Mensch einem anderen angedeihen lässt.
Und da sage ich: Ja, das kann falsch sein.
Ich erinnere mich an einen Buchtitel, den ich nicht vergessen kann. Er lautet: 'Bitte nicht helfen, es ist auch so schon schwer genug.'
In diesem Titel wird ja unterstellt, dass Helfen die Sache nicht einfacher macht, sondern letztlich zu einer zusätzlichen Belastung führt. Und daraus resultiert dann, dass es ohne Hilfe leichter ist.
Aber was macht denn Helfen zu einer Belastung oder wie ist es um das Helfen bestellt, dass ich sage, wir sollten es besser lassen?
Und da gibt es einige Punkte, die ich dir erklären möchte und die deutlich machen werden, weshalb das Helfen so problematisch sein kann. Und ich will danach natürlich auch erklären, welche Art des Helfens ich für besser halte. Aber dazu später.
Was macht das Helfen also so problematisch?
Helfen und Co-Abhängigkeit
Stelle dir vor, dein Partner oder deine Partnerin ist alkoholabhängig. Der übliche Weg ist doch, diese Tatsache zunächst möglichst lange zu verheimlichen und nicht wahrhaben zu wollen. Dann beginnt der Weg der Hilfe. Man geht zu Therapeuten, schließt Vereinbarungen, versteckt den Alkohol, versucht den Alkohol zu beschränken. Versprechen werden gegeben und angenommen. Man gibt sich selbst die Schuld, meint, versagt zu haben. Immer mehr verstrickst du dich mit dem Partner rund um den Alkohol – man nennt es Co-Abhängigkeit. Und so wird die Sucht verstetigt, wird aufrechterhalten und letztlich gefördert. Dabei wollte man doch nur helfen.
Es ist gewiss ein klassisches Beispiel, macht aber deutlich, wie sehr das Helfen schaden kann.
Und das passiert nicht nur bei Alkohol, dort sind wir es gewohnt von Co-Abhängigkeit zu sprechen. Ich glaube, dass dieses Problem sehr viel häufiger bei sehr viel mehr Notsituationen und Krankheiten auftritt. Notsituationen haben eine bestimmte Energie, die uns anspricht und unser Helfenwollen mobilisiert. Dabei werden wir oft blind und kommen so in eine Verwobenheit mit der Not und dem Notleidenden, die uns nicht guttut.
Helfen schafft Opfer
So erzeugt Helfen schnell ein Opfer. Es gibt den Schwachen und es gibt den Starken, der das Geld, die Kompetenz, die Zeit und die Fähigkeit hat, und einen anderen Menschen, der genau das nicht hat. So kann Helfen andere erst richtig zu Opfern machen und damit den Betroffenen in eine Haltung bringen, die sehr schwer wieder aufzulösen ist.
Das Opferdasein führt dann schnell zu einer Entwürdigung, denn man weiß es ja besser. Man weiß, was der andere braucht und was nicht, was es jetzt zu tun gibt, was dran ist. Wüsste der Notleidende es, dann würde er es ja tun. Also sage ich ihm, was er machen soll.
Und so verliert der Notleidende nach und nach seine Würde, kommt in eine Abhängigkeit. Und dann kommt noch Undankbarkeit hinzu, wo man ihm doch so sehr geholfen hat, keine Zeit und keine Mühe scheute.
Die vergessenen anderen
Helfen kann zu einem Tunnelblick führen, da man all seine Energie und alle Aufmerksamkeit auf diesen einen Menschen legt.
Eltern passiert das häufiger, wenn eines ihrer Kinder schwer erkrankt ist, dann verschwinden schnell die anderen aus dem Blick. Alles dreht sich um das kranke Kind.
Und professionelle Helfer identifizieren sich gerne mit dem Notleidenden und sind ganz auf seiner Seite. Das klingt gut und hilfreich. Aber letztlich ist es das nicht.
Und all das kann dann letztlich zu einem Burnout führen und zu Enttäuschung und Lustlosigkeit. Man hat es doch so gut gemeint, man hat alles gegeben und der Notleidende nimmt es nicht an, macht etwas anderes daraus, trinkt weiter, ernährt sich weiter schlecht, und Undankbarkeit, ich sagte es ja schon, kommt dann noch dazu. Wofür also das alles?
Helfen kann krank machen!
Wirklich helfen ist etwas völlig anderes und hat eine Sache ganz wesentlich im Blick: Die Würde. Helfen, das den Notleidenden als Opfer definiert und dabei bleibt, ist keine Hilfe, da es dem anderen die Würde nimmt.
Wer schon einmal Opfer geworden ist, weiß, wie furchtbar sich das anfühlt. Zwar kann es wichtig sein einzusehen, Opfer geworden zu sein und daher keine Schuld zu haben, so ist es dennoch wichtig, aus der Opferhaltung herauszufinden. Es gibt einen Unterschied zwischen der Opferrolle und der Haltung als Opfer.
Opferrolle und Opferhaltung
Kinder werden oft Opfer von Erwachsenen, und das muss auch so benannt werden. Aber Kinder sollten unbeirrt lernen, sich diese Haltung nicht zu eigen zu machen, weil sie schwächt und krank macht. Und Opfersein nimmt die Würde.
Wie also kann jetzt ein Helfen aussehen, das die Würde wahrt, nicht zu einem Burnout führt und wirklich hilft?
Dafür gibt es einige Dinge zu beachten und darüber nachzudenken.
Wenn du helfen möchtest, dann tue nur das Nötigste.
Tu das, was jetzt wirklich gefordert ist und wichtig ist, aber nicht mehr. Du musst die Kraft haben, aufzuhören zu helfen, wenn es vorbei ist. Manche machen immer neue Angebote und stellen weitere Leistungen in Aussicht. Dies kann noch gemacht werden, hier ist noch eine Baustelle, und dort könnte auch noch Hilfe benötigt werden.
Hilf nur dort, wo du es zugesagt hast, und nur so lange, wie es passt, und dann höre auf. Das Aufhören geschieht natürlich mit Ansage oder ist vielleicht bestenfalls abgesprochen. Ich helfe dir nach der OP, bis du selber in der Lage bist, einkaufen zu gehen. Und danach ist Schluss.
Wenn du helfen möchtest, dann mache ausschließlich Angebote.
Manche beginnen zu helfen, bevor jemand zugestimmt hat – das ist in Akutsituationen gewiss wichtig, doch geschieht das auch in ganz "normalen" Notsituationen. Du kannst und darfst nur Angebote machen. Und diesem Angebot muss der Notleidende zustimmen – das ist sein Recht. Jeder hat nämlich das Recht dazu, Hilfe abzulehnen.
So entsteht erst eine Vereinbarung zwischen dir und dem Notleidenden.
Ich kann dir anbieten, dich einmal in der Woche beim Einkaufen zu unterstützen, wenn du das möchtest.
Wenn du helfen möchtest, dann hör auf, wenn die Notsituation wieder allein bewältigt werden kann.
Oft geht das Helfen weiter, obwohl längst die Not vorbei ist und die Wunde geheilt ist. Es ist doch so schön, miteinander einzukaufen, und es ist immer noch nicht ganz leicht für den Notleidenden einzukaufen. Und wenn das wieder geht, dann hilft man gerne noch im Haushalt.
Hör auf, wenn es wieder geht. Sage, dass du den Eindruck hast, dass es wieder geht, und du dich deshalb aus diesem Dienst zurückziehst.
Wenn du helfen möchtest, dann habe Respekt vor dem Schicksal.
Wir alle wissen, dass es gute Gründe gibt, Alkohol zu trinken, sich zu ritzen, depressiv zu sein. Jeder und jede hat gute Gründe dafür, und die Gründe liegen nicht nur in der eigenen Lebensgeschichte, sondern oft in der Herkunftsfamilie. Alkohol kann ein "guter" Weg sein, die Liebe zu den Eltern deutlich zu machen. Die Depression ist eine wirkmächtige Verbindung zum Onkel, der sich das Leben nahm.
Und das Ritzen ist die Chance, nicht erwachsen zu werden und dafür zu sorgen, dass die Eltern sich nicht trennen. Hinter allem steckt eine gute Absicht.
Und diese Absicht und dieses Schicksal gilt es zu respektieren. Und das gilt insbesondere dann, wenn sich jemand nicht helfen lassen will und man sieht, wohin das führt.
Es ist sein Schicksal und es ist sein Weg. In einer solchen Situation kann man nur sagen: Ich respektiere deine Entscheidung und dein Schicksal, ich sehe die Gründe für dein Tun und ziehe mich zurück.
Wenn du dich einmal anders entscheiden solltest, bin ich gerne wieder da, aber jetzt gibt es für mich nichts zu tun.
Wenn du helfen möchtest, dann habe Mitgefühl nicht nur für den Einzelnen, der Not leidet, sondern für das gesamte System.
Wer sich zu sehr mit dem Notleidenden identifiziert, lässt viele Aspekte außer Acht. Es braucht eine Allparteilichkeit und den weiten Blick. Nur so können wir jemanden wirklich verstehen und erkennen, was das darunterliegende Problem ist. Habe Mitgefühl für die ganze Familie, gerade dann, wenn du nur einem daraus helfen willst.
Und identifiziere dich mit niemandem, du musst frei bleiben.
Wenn du helfen möchtest, dann gib nur so viel, wie du geben kannst.
Notsituationen sind eine große Verführung, zu viel zu geben, weil es nie reicht. Immer kann man noch mehr Geld geben, noch mehr Zeit opfern, weil es nie reicht. Das ist die Verführung, und sie ist gefährlich.
Gib nur so viel, wie du geben kannst und bereit bist zu geben. So verlierst du auch nicht die Freude am Helfen und fühlst dich nicht ausgenutzt.
Wenn du zum Beispiel an einem Bettler vorbeigehst, dann gibt es nur zwei Möglichkeiten: Du gibst etwas oder du gehst vorbei. Tue das, was du tust, mit einer Entscheidung und gib gegebenenfalls dann so viel, wie du magst, nicht wie viel der andere vielleicht braucht. Du musst niemanden retten, und vor allem kannst du niemanden retten.
Ist das nicht kalt und unbarmherzig?
Vielleicht fragst du dich jetzt, ob das alles nicht sehr kalt ist und unbarmherzig. Dabei meine ich nicht, dass es um Kälte geht oder um Lieblosigkeit. Es geht um eine innere Klarheit, die dich davor schützt, dich zu verausgaben und Teil des Problemsystems zu werden, und sie schützt den anderen davor, auf Dauer Opfer zu sein und eigene Ressourcen nicht zu erkennen und einzusetzen.
Mir geht es ja auch wirklich um Hilfe, und das heißt um einen Prozess, bei dem jemand wieder seine eigenen Ressourcen einsetzen kann, um gut zu leben. Mitgefühl, Freundlichkeit, ein offenes Herz, das bleiben weiterhin Grundlagen. Und dazu kommt diese Klarheit und die Kraft, sich auch heraushalten zu können,
damit wirkliche Hilfe geschehen kann und gerne erteilt und angenommen wird.
korrigiertes Transskript
Das ist eine sehr interessante Sichtweise, ein richtiger Perspektivwechsel. Danke für diese neuen und wichtigen Gedanken! Gibt es heute keine Youletter? Bei mir ist nämlich heute keiner eingetroffen. Liebe Grüße Cathérine
Danke – auch für den Hinweis bezüglich des YouLetters – ich hatte den letzten Schritt vor der Versendung vergessen.
Was bedeutet für Dich „Mitgefühl mit dem gesamten System“ haben? Lieben Dank für die Erklärung im voraus. Einen gesegneten Sonntag!
Daas bedeutet nicht nur zu sehen, wie ein einzelner leidet oder in Not ist und sich einseitig zu indetifizieren, sodnern immer zu sehen, dass es gilt das ganze System zu helfen und zu sehen, dass es eine Dynamik im System gibt, bei der alle „Opfer“ und „Täter“ zugleoich sind. Nur bei Kindern gibt es eine Ausnahme! David