Trauma beeinflusst unsere Spiritualität immens und hat es schon immer getan. Ich selbst bin erst mit der Zeit darauf gekommen und bin dabei nach und nach alle Teile meiner Spiritualität, die aus dem Trauma entstanden sind oder aus Traumaerfahrungen anderer, aus meinem spirituellen Leben zu entfernen. Denn es ist ja nicht so, dass es nur um mein ganz persönliches Trauma geht, sondern viele Menschen und Generationen haben dazu beigetragen, was wir heute als spirituell betrachten. Das gilt erst recht, wenn du dich in einer Religion oder Gemeinschaft beheimatet hast. Das Christentum hat zum Beispiel viele Anteile von traumatisierten Menschen in sich aufgenommen, die nicht dazugehören und nur dann verständlich sind, wenn wir wissen, dass sie vermutlich aus einer traumatischen Erfahrung heraus kommen.
Christentum als Traumareligion
Überhaupt ist das Christentum eine Traumareligion, wenn nicht sogar die Traumareligion schlechthin. Und das nicht, weil die Lehre und die Praxis so weit entwickelt wurden, dass alles, was traumarelevant ist, verändert wurde. Es ist doch so, dass einer der zentralen Feiertage, Karfreitag, zeigt, wie die zentrale Figur gefoltert und elendig sterben musste. Das war ein Trauma nicht nur für Jesus, sondern vor allem für alle, die mit ihm gegangen sind. Die Jüngerinnen und Jünger, die engsten Freunde wurden durch dieses Ereignis traumatisiert. Das kannte man damals natürlich nicht, das ist eine Erkenntnis der letzten 50 Jahre, älter ist das Wissen um ein Trauma noch nicht. Aber das heißt ja nicht, dass es deshalb nicht doch da war und wirkte.
Denn das Christentum hat, wie viele andere Lehren und Religionen auch, eine ganze Zahl von Schriften, Gebeten und Praktiken, die nicht dazu geeignet sind, andere Menschen zu unterstützen, zu Gott zu führen oder innere Heilung zu ermöglichen. Viele Schriften und Praktiken sind eher dazu geeignet, ihrerseits Traumatisierungen hervorzurufen.
Wie alles anfing: Mord und Verfolgung
Schauen wir aber noch weiter und tiefer ins Christentum und warum es eine Traumareligion ist. Denn auch die Verfolgung der Christen in den ersten Jahrhunderten war ein großes und massives Trauma. Menschen wurden ja nicht einfach mit ein wenig Gift ins Jenseits befördert, sondern bestialisch ermordet - wie es damals üblich war. Sollte daraus nicht ein Trauma entstehen? Wie könnten solche Erfahrungen zu Beginn des Christentums keine Auswirkungen auf die Lehre und die Praxis gehabt haben?
Aber wir können noch weiter schauen. Jesus selbst hatte immer wieder mit traumatisierten Menschen zu tun, die an den Rand gedrängt wurden, wie zum Beispiel die vielen Kranken, die Aussätzigen. Das waren ja nicht nur irgendwelche Krankheiten - es ging hier nicht um Schnupfen. Hier waren Krankheiten, die eine tiefe seelische Ursache hatten, die zur Ausgrenzung aus der Gemeinschaft führten und großes Leiden verursachten. Meines Erachtens ist dieser Aspekt zum Verständnis des Christentums noch gar nicht richtig gewürdigt worden. Ich bin mir sicher, dass wir das Christentum ohne diese Sichtweise nicht verstehen können, vor allem die dunklen und problematischen Inhalte und Formen.
Schauen wir jetzt aber auf unser Leben hier im 21. Jahrhundert, schauen wir, wie eine Traumatisierung heute starken Einfluss auf unser geistliches Leben nehmen kann. Und da meine ich nicht, dass es nur negative Auswirkungen haben muss.
Spiritualität als Zufluchtsort
Für Menschen, die stark traumatisiert wurden, ist es oft der einzige Zufluchtsort, sich einen Ort vorzustellen, einen Raum, ein Land, in dem es wunderbar ist. Und je weiter dieser Raum ist, umso besser kann er für den Einzelnen sein. So stellen sich manche vielleicht den Himmel vor, sprechen in Gedanken mit Engeln, mit Jesus oder welche Figur auch immer wichtig sein mag. Wer weder fliehen noch kämpfen kann - und das trifft fast immer auf Kinder zu - der hat nur die Möglichkeit, ganz tief nach innen zu gehen, sich eine Welt zu erschaffen, in der alles gut ist und in der man sich gerne aufhält. Äußerlich geschieht vielleicht das Furchtbare, aber innerlich ist man geschützt - zumindest für den Augenblick und nie genug, dass das Trauma damit keine tiefe Verletzung hinterlassen würde. Deshalb machen auch manche Menschen in solch ausweglosen Situationen eine Nahtoderfahrung, die sie weit weg führt und tiefen Trost und Unterstützung schenkt. Wer einen solchen Ort gefunden hat, schafft sich damit Abstand von der harten Wirklichkeit, und genau den braucht es. Irgendwann wird es dann vielleicht darum gehen, diesen Raum weiterzuentwickeln, damit er mitwachsen kann. Oder es gilt, ihn zu würdigen, um dann neue Wege zu gehen. Solche Orte haben die Angewohnheit, meistens recht gleich zu bleiben, es gibt dann wenig Weiterentwicklung und Wachstum. Daher kann eine Veränderung oder eine Art "Auszug" irgendwann wichtig sein.
Trauma hat aber vor allem eine negative Auswirkung auf unsere Spiritualität, und darum geht es mir ja vor allem. Und diese Auswirkungen werden oft gar nicht gesehen oder erkannt. Denn wir meinen, dass Spiritualität oder Religion eben so ist, wie sie ist. So steht es da, so sagt es der Pfarrer, der Priester oder der Guru. Aber dem muss nicht so sein - ganz und gar nicht. Du bestimmst ganz alleine, was du glaubst - niemand kann dir das vorschreiben. Wie auch? Man kann auch niemanden befehlen zu lieben. Du bist frei, und daher nutze deine Freiheit, um dich von altem und schädlichem Ballast zu befreien.
Spiritualität kann Druck machen
Wenn Spiritualität Druck macht, dann stimmt etwas nicht. Der Druck kann entstehen, wenn ein angstbesetztes Gottesbild vorherrscht. Viele sagen natürlich schnell, dass Gott für sie Liebe ist. Doch sehr oft habe ich es schon erlebt, dass das im Inneren gar nicht stimmte. Heute sagt man das so, heute ist das üblich, von Gott als die Liebe zu sprechen. Doch wenn du tiefer und ehrlicher schaust, wie sieht es dann bei dir aus? Denkst du nach dem Tod, gibt es die große Abrechnung? Gibt es die Hölle für dich? Was denkst du wirklich, welche Angst bemächtigt dich wirklich, wenn du an deinen Tod denkst? Druck entsteht auch, wenn man gelernt hat, dass es nie genug ist, dass man immer noch mehr tun, geben und beten kann und muss. Das macht einen fortlaufend klein und verursacht das Gefühl von Minderwertigkeit, nicht zu genügen und stresst das Leben vieler.
Spiritualität kann moralisieren
Ein anderer sehr großer Bereich ist der der Moral. Es geht um alles, was du sollst, nicht sollst, nicht darfst, musst und so weiter. Es ist natürlich richtig, dass ich niemanden töten darf - vom Strafrecht her gedacht, aber auch vom Glauben her. Aber es gibt ja noch viel mehr von: Du musst und du darfst nicht. Dem auf die Schliche zu kommen ist gar nicht leicht und es sitzt zudem ziemlich tief in uns, so dass das Erkennen oft gar nicht ausreicht. Es ist wie ein inneres Programm, das sich immer wieder selbst aktiviert. Zum Bereich der Moral gehört natürlich auch die Sexualität. Auch wenn heute in kirchlichen Kreisen anders darüber gesprochen wird. Im Kern bleibt immer noch eine ganz krude Vorstellung von dem, was Sexualität ist und wozu sie da ist. Auch das ist ein breiter Raum für Erniedrigung, für Lustfeindlichkeit, für Scham und Angst. Solche Moral und solche Gottesbilder werden uns natürlich vermittelt von Pfarrern, Priestern, von spirituellen Meistern und Meisterinnen.
Es hat mich immer gewundert, wie viele dem sicherlich großartigen Dalai Lama folgen, aber völlig ausblenden, welche enge Moralauffassung er hat. Es gibt auch im Christentum einige "Gurus", die wunderbar reden können - aber wenn man mal hört, was da gesagt wird, dann schüttle ich immer wieder den Kopf. Enge, harte Moral, es geht dann gar nicht darum, dass jemand seine Form spirituellen Lebens findet, sondern sich einfach anpasst an das Vorgegebene.
Spirituelle Texte können uns klein machen
Aber gehen wir weiter und schauen, wie eine Spiritualität vorgeht, die aus einem Trauma erwachsen ist oder selber traumatisiert, um Menschen klein zu machen. Ich selbst lese jeden Tag zahlreiche biblische Texte, höre kirchliche Gebete und muss immer wieder feststellen, wie stark doch auf Sünde und Buße Wert gelegt wird. Immer wieder wird von der Sünde gesprochen, und ein solches Sprechen hat Auswirkungen auf jeden Zuhörer und jede Zuhörerin. Man sitzt da in der Kirche und hört diese Texte immer und immer wieder. Wie sollte das nicht Einfluss auf mein Erleben haben und wie sollten solche Texte nicht aus einer Traumaerfahrung entstanden sein?
Spiritualität kann Frauen klein halten
Und dann das weite Thema des Umgangs mit Frauen in vielen religiösen Gemeinschaften und Gruppierungen. Was Frauen allein hier sich ständig ansehen und hören müssen. Das sind keine traumatischen Erfahrungen, bei denen ein einzelnes Ereignis einmal geschieht und das ganze Leben binnen Sekunden wie bei einem Flugzeugunglück verändert wird. Hier geschieht eine Art Infiltrierung, es sickert etwas in uns ein und verändert etwas. Der Umgang mit den Frauen und dem Weiblichen in Kirche und Religion ist traumadurchtränkt - über die Generationen hinweg. Diese Last kann nur über Generationen abgetragen werden. Klein macht aber auch manches Standesdenken - das ist eher ein Thema im katholischen Kontext, wo es immer noch eine Ständegesellschaft gibt, wie zu Zeiten der Monarchie auch in unserem Land. Es degradiert die meisten und erhöht wenige. Wer traumatisiert ist, wird sich hier vielleicht wiederfinden, weil eine solche Ordnung Sicherheit gibt, oder aber darunter leiden, weil alte Wunden der Minderwertigkeit und der Beherrschung dadurch immer wieder aktualisiert werden. Und daneben, das will ich nur nebenbei bemerken, die furchtbare Sprache mancher Verlautbarungen und Würdenträger, die weit von einer Sprache ist, die die Seele der Menschen nicht nur erreichen will, sondern auch daran teilhaben möchte, sie zu heilen. Hier geschieht sprachlich immer wieder Schreckliches - zum Glück gibt es immer auch Gegenbeispiele.
Die traumasensible Spiritualität
Wie kann nun eine traumasensible Spiritualität aussehen, eine, die nicht immer wieder alte Traumata wachruft oder neue erzeugt? Wobei man sagen muss, dass man nie ganz ausschließen kann, dass sogenannte Flashbacks, als Traumaerinnerungen auftauchen. Sie sind oft an Gesten, Gegenstände, Gerüche und Orte gebunden, die für 99% der Menschen völlig unproblematisch wirken. Also, worum muss es gehen?
Das eigene Selbst entdecken
Und es muss als Erstes darum gehen, dass jeder Mensch, gerade im spirituellen Bereich, das eigene Selbst entdeckt und eine fortlaufende Beziehung daraus gestaltet. Trauma ist immer auch Entfremdung, und Entfremdung heißt, ich lebe nicht mich selbst, ich bin nicht mit mir selbst verbunden. Und das Selbst ist die innere Qualität der Offenheit, des Mitgefühls, der Verbundenheit und der Kreativität. Im Trauma verliere ich den Zugang dazu und baue mir ein Trauma-Ich auf, das das Selbst zumindest teilweise ersetzt. Aber ich werde nie Glück, Liebe und Erfüllung erleben, auch nicht das tiefe Gefühl, mit Gott verbunden zu sein, wenn ich das Selbst nicht gefunden habe und meine Beziehung dazu kultivieren konnte.
Spiritualität die dich unterstützt
Wenn mir das aber gelingt, dann kann ich im tiefsten Sinne des Wortes selbst-bestimmt leben, glauben und meine Spiritualität praktizieren. Damit Spiritualität dich wirklich unterstützt und nicht in alte Traumata verstrickt oder sie weckt, muss sie dich unterstützen - das darf auch mal herausfordernd sein, aber es braucht immer den Ton der Unterstützung und nicht den der Sünde oder des "Wenn du das nicht tust, bist du verloren, kommst in die Hölle oder was auch immer". Und daher muss die Sprache deiner Spiritualität eine wertschätzende Sprache sein. Wertschätzend für dich und für andere. Und das gilt auch für biblische Texte. Du musst gar nichts lesen und du darfst lesen, was dir guttut - was immer das für dich sein mag. Wähle auf alle Fälle aus und überprüfe, ob ein Text oder eine Übung für dich stimmig und gut wirkt. Unterstützt der Text das Beste in dir oder nicht?
Eien Spiritualität, die Hoffnung und Weite schenkt
Eine Spiritualität, die traumasensibel ist, schenkt Hoffnung und Weite. Spiritualität muss immer in die Weite führen - zumindest mittelfristig. Und sie muss dir das Gefühl geben, gut zu sein und richtig. Und vor allem wird eine traumasensible Spiritualität Fehler akzeptieren und annehmen. Nicht als etwas, was es unbedingt zu vermeiden gilt, sondern als Variation, als Übung, als Weg. Natürlich ist es gut, wenn du andere liebst und freimütig gibst, und natürlich ist es gut, regelmäßig zu meditieren. Aber was passiert, wenn dir das nicht gelingt? Dann gibt es nichts und niemanden, der dich dafür zu kritisieren hat, sondern es geht immer um Unterstützung, damit du deinen Weg gehen kannst. Es ist und bleibt immer deine Spiritualität, und du darfst lernen zu entscheiden, was darin Platz findet und was nicht.
Diese Erlaubnis solltest du dir unbedingt geben!
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